Der Siegelring - Roman
hatte keine Gelegenheit gehabt, über ihren Lohn mit ihm zu sprechen. Da sie sich noch nicht ganz sicher mit dem Ofen war, hatte sie als Nächstes etwas einfaches Geschirr gedreht und den zweiten Brennversuch gemacht. Ein Teil der Gefäße war gesprungen, weil sie sie schlecht gestapelt hatte, aber ein gutes Dutzend Krüge, ein paar Schalen und Becher
waren von so guter Qualität, dass sie sie durchaus auf dem Markt anbieten konnte. Erwan hatte den kleinen Esel-Wagen angespannt, und sie belud ihn mit den Töpferwaren, die sie in Stroh eingebettet hatte. Gemeinsam zockelten sie den Karrenweg hinunter Richtung Dorf.
Annik wurde wohlwollend von den Dorfbewohnern aufgenommen, viele der Frauen blieben an dem Karren stehen, begutachteten die Waren und schwatzten mit ihr über Alltäglichkeiten. Mit einigen war die Verständigung schwierig, die germanische Zunge war Annik fremd, und der gallische Dialekt ähnelte nur entfernt dem ihren. Aber fast alle konnten einige Brocken der römischen Sprache, und so fanden sie nach und nach zusammen. Um die Mittagszeit hatte sie über die Hälfte ihrer Waren verkauft, und die Münzen klimperten erfreulich hell in dem Lederbeutel an ihrem Gürtel. Sie ließ Erwan bei dem Wagen und machte sich auf die Suche nach einem Imbiss. Der Duft des Pastetenbäckers hatte seit geraumer Zeit ihre Nase gekitzelt, und kurz darauf biss sie in das herzhaft gewürzte und gefüllte Gebäck. Kauend machte sie einen Rundgang über den Platz und betrachtete die ausgelegten Waren. Es erinnerte sie an ihre heimischen Märkte - gackernde Hühner in Weidenkörben, braune und weiße Eier von Hühnern, Gänsen und Enten, Kohlköpfe, Zwiebeln, Äpfel, Fässer mit eingelegtem Gemüse, Töpfe mit Waldhonig, getrocknete und frische Pilze und verschiedene Käse bildeten das Lebensmittelangebot. Korbwaren, Seile, Reisigbesen und Holzlöffel zeugten von emsiger Handarbeit, grob gewebte Stoffe und dicke Filzmäntel mit Kapuzen wurden ebenso angeboten wie lederne Gamaschen und Stiefel. Sie erstand eine knielange braune Wolltunika mit langen Ärmeln, die sie an den kommenden kalten Tagen zu tragen
gedachte und konnte auch einem festen Ledergürtel mit Kupferbeschlägen nicht widerstehen.
Hufgeklapper ertönte, und eine Gruppe Legionäre kam ins Dorf geritten. Sie schienen nicht in offizieller Mission da zu sein, sondern verlangten Suppe, Pasteten und Bier. Da Annik von Martius wusste, dass das Essen der Truppe zwar sättigend, aber weit davon entfernt war, ein Genuss zu sein, konnte sie durchaus verstehen, dass die Männer sich am Markttag, wenn es irgend möglich war, in den Tavernen verpflegten. Neugierig, aber vorsichtig, um ja die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken, lugte sie zu den Männern hin, um zu prüfen, ob Martius unter ihnen war. Er war tatsächlich bei ihnen, und sie überlegte, ob sie ihn auf sich aufmerksam machen sollte. Doch da lenkte sie ein neues Geräusch ab. Auf ein aufrecht stehendes Fass hatte sich ein junger Mann geschwungen und begann, eine fröhliche Weise auf einer Harfe zu zupfen. Annik, die bisher nur wenig von der Sprache der Dorfbewohner verstand, konnte nur in etwa deuten, was man ihm zurief.
»He, Cullen, sing uns ein Lied!«
»Ja, Cullen, sing von den alten Zeiten!«
»Cullen, sing auch von den heutigen Zeiten!«, kicherte ein Mädchen.
»Und denen von morgen!«, krächzte eine alte Händlerin. »Auch wenn ich sie nicht mehr erlebe!«
Der junge Mann mit den langen braunen Haaren und dem schütteren Bart lachte und schlug die Saiten lauter. Mit einer für seinen hageren Körper erstaunlich tragenden Stimme begann er, in der Sprache der Einheimischen Verse vorzutragen. Brüllendes Gelächter ertönte, und den Refrain sang die Gruppe mit, die sich um ihn geschart hatte. Auch die nächsten Strophen war ein Lacherfolg, johlend klatschten die Leute im Takt mit. Dass die Texte sich auf höchst despektierliche Weise mit den
Römern auseinander setzte, hätte selbst ein Gehörloser verstehen können. Als der letzte Refrain verklungen war, wandte sich der Barde mit lauter Stimme und in lateinischer Sprache an die Legionäre.
»Und jetzt, damit auch das verehrte und hochkultivierte Publikum aus dem mächtigen römischen Reich in den Genuss meiner Kunst kommt, will ich das Liedchen in ihrer Sprache wiederholen!«, rief er. Die Legionäre waren schon aufmerksam geworden, jetzt standen sie auf und kamen näher. Der Barde grinste die Uniformierten an und begann einen überaus frechen
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