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Der Siegelring - Roman

Titel: Der Siegelring - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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Doch nicht in diese spiegelnden Flächen warf sie ihren Blick, sondern betrachtete sinnend den Himmel. Die Wolkenbäusche des Morgens waren dicker geworden, und über ihnen, in gro ßer Höhe, hatten sich fedrige, lange Schwaden gebildet. Zwischen Meer und Wolken aber zogen Vögel ihre Bahnen, und deren Flug galt die Aufmerksamkeit der Seherin. Annik verhielt sich ruhig, lehnte sich an den sonnenwarmen, grauen Stein und lauschte einer zirpenden Grille. Es schien eine lange Weile vergangen zu sein, bis Mutter Tekla endlich wieder das Wort an sie richtete.
    »Die Götter haben dir einen mutigen Geist mitgegeben, Annik«, sagte die Seherin. »Das ist Tugend und Last zugleich. Nun ja…« Sie seufzte. »Du willst Rat. Du willst wissen, ob du gehen oder bleiben sollst. Die Frage ist eigentlich leicht zu beantworten. Ich glaube, wenn du noch fest verbunden mit deinem Leben hier wärst, würdest du mit dieser Entscheidung nicht ringen müssen. Dann würdest du bleiben. Aber Anna, Tochter der Deneza, du hast deinen Anspruch aufgegeben. Warum, weißt du wohl selbst am besten. Du hättest auch nach dem Tod von Briag dem Schwarzen und Deneza, seiner Frau, noch immer Fürstin und Führerin unseres Volkes sein können. Nun bist du Töpferin geworden und gräbst in der Erde nach deinen Wurzeln. Nur wenig von dir haftet
jedoch noch in diesem Boden. Und er ist, vor allem dort auf deiner Insel, zu locker, zu sandig, um dich zu halten. Mag sein, dass dich der schwere Boden im Inneren des Landes fester zu halten vermag. Doch dazu musst du dich ganz mit ihm verbinden. Ich glaube allerdings nicht, dass dein schöner Rayan dir dabei helfen wird. Er wird seinen eigenen Weg gehen, das solltest du wissen.«
    »Ja, mag sein. Er geht ihn jetzt schon oft. Aber für eine Weile …«
    »... braucht er dich noch.«
    »Er braucht mich nicht, er ist ein Mann. Ich brauche ihn. Er ist, wie du ganz richtig festgestellt hast, das bisschen Wurzel, der Halt, den ich noch habe.«
    Zweifelnd sah die Seherin die junge Frau an.
    »Wenn du meinst. Nun, dann gehe auf jeden Fall mit ihm. Die Omen für deine Reise sind glücklich, falls dich das beruhigt. Du wirst dein Ziel unbeschadet erreichen. Aber die fernere Zukunft...«
    Mutter Tekla verstummte und sah mit wachsendem Erstaunen den dahingleitenden Möwen zu.
    »Was bringt mir die Zukunft? Sag es mir, auch wenn es eine Warnung ist.«
    »Es ist keine Warnung, eher ein Versprechen. Aber - Annik, eines, das vermutlich nicht in diesem Leben eingelöst wird, wie mir scheint. Du wirst einst zurückkehren zu dieser Insel, aber zuvor wirst du eine lange Wanderung hinter dich bringen müssen.«
    »Du sprichst in Rätseln.«
    Mutter Tekla kicherte. »Das ist die Art der Seher!« Sie schwieg einen Moment, anscheinend um die rechten Worte zu finden. Aber auch das, was sie dann sagte, war nicht gerade eindeutig.
    »Annik, ich mag einen Blick in die Zukunft tun können und dir die Möglichkeiten beschreiben, die unser
diesseitiges Leben betreffen, so dass du es verstehst. Aber der Blick in die Anderwelt bedeutet, dass man nur noch in Bildern sprechen kann. Höre, wir sind Weber und Muster zugleich, der Lauf des Lebensfadens ist verknüpft mit anderen Fäden. Wie es das Muster bestimmt, so kreuzen sich die Fäden - erst wenn du erkennst, welches Muster sich entwickelt, kannst du es nach eigenem Belieben verändern. Wenn nicht, bestimmen die Götter dein Schicksal.« Sie lächelte Annik verständnisvoll an. »Die Aussage hilft dir jetzt wenig, später vielleicht mehr.«
    »Hoffentlich.«
    Annik löste sich von dem Felsen in der Annahme, dass die Alte nun alles gesagt hatte, was sie sehen konnte, doch Mutter Tekla hatte ihre Augen fest auf eine der mit Wasser gefüllten Höhlungen gerichtet und betrachtete die spiegelnde Oberfläche.
    Annik verharrte gebannt.
    Leise murmelte die Seherin: »Du wirst dein Spiegelbild finden, und dann ist es an dir, die wahrhaft richtige Entscheidung zu fällen. Lass dich nicht durch den Augenschein blenden.«
    Genau zu diesem Zeitpunkt flatterte der Rabe aus dem Gras auf und zog mit einem Krächzen dicht über ihren Köpfen hin. Eine schwarze Feder taumelte nieder und landete auf der Wasseroberfläche.
    »Der Rabe ist dir wohlgesinnt! Fürchte dich nicht vor ihm. Er wird dein Führer sein durch alle Welten. Er wird dich hierher zurückbringen. Einst.«
    Annik nahm die Feder vorsichtig in die Hand. Sie wirkte versonnen, auch sie hatte in ihrem Inneren Bilder gesehen. Andere als die Alte, aber

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