Der Siegelring - Roman
vor ihr stehen.
»Ja, ich verstehe. Mein Leben ist kostbar für ihn. Gut, zeig mir, wie ich jemanden töten kann. Das kannst du doch, nicht wahr?«
Annik seufzte tief auf und nickte.
»Notgedrungen - ja. Aber wir wollen diese Übungen nicht hier beginnen, wo uns viel zu viele neugierige Augen beobachten. Wir werden morgen in die Scheune gehen, wenn die Leute draußen auf den Feldern sind.«
»Ja, ist in Ordnung.«
»Ihr werdet ein paar blaue Flecken bekommen.«
»Wundervolle Aussichten!«
Ulpia Rosina hatte zuweilen einen trockenen Sinn für Humor, stellte Annik wieder einmal fest. Die zarte, so zerbrechlich wirkende Frau besaß eine verborgene Zähigkeit, wenn es darum ging, ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Und ihr größtes Interesse schien derzeit ihrem heimlichen Liebhaber zu gelten.
Ulpia Rosina übte also pflichtgetreu mit Annik den Gebrauch ihrer Waffe, aber es kostete sie ständig aufs Neue Überwindung. Sie hatte eine lebhafte Fantasie und stellte sich bei jedem Stich, bei jedem Hieb vor, welche Wunden sie mit dem Messer hervorrufen konnte. Nach fünf Tagen gab Annik es auf, ihr mehr beizubringen als die einfachsten Techniken. Sie hoffte, dass Rosina, sollte sie je in Gefahr geraten, sich daran erinnern
würde. Aber groß war ihr Vertrauen darin nicht. Zumindest hatte sie ihr versprochen, das Stilett bei sich zu tragen, wenn sie das Gut verließ.
Die Tage wurden kürzer, der Oktober neigte sich dem Ende entgegen. Das bunte Laub fiel von den Bäumen, als die ersten heftigen Winde durch das Rheintal rauschten. Es kamen häufig Besucher, manchmal aus der Colonia, einige weiter aus dem Norden oder aus dem Süden, die der Gattin des einflussreichen Valerius Corvus ihre Aufwartung machten. Der Skandal von einst schien allmählich aus dem Gedächtnis der Leute verschwunden zu sein, andere hatten nie etwas davon gehört. Annik hatte kurz nach der Abreise des Hausherrn durch einen Boten ein dickes Bündel erhalten, das ohne eine Nachricht bei ihr abgeliefert wurde. Aber als sie es öffnete, wusste sie, wer der Absender war. Zwei weiße Tuniken, eine aus Seide und eine aus feinstem Leinen, hatte es enthalten. So war sie in der Lage, die Einladungen ins Haus in angemessener Kleidung wahrzunehmen.
Es bereitete ihr Freude, den Fremden zuzuhören, die über die Ereignisse im Land sprachen, sich aber auch über philosophische Themen stritten oder gesellschaftlichen Klatsch austauschten. Sie beobachtete dabei sorgfältig, wer von den Dienern dabei war und besonders aufmerksam lauschte, wenn über brisante Themen gesprochen wurde. Eines davon war sicherlich die Nachricht, die von einem Besucher erwähnt wurde, der aus Rom gekommen war und auf der Durchreise an die Nordküste bei ihnen Halt gemacht hatte. Er war ein entfernter Verwandter der Hausherrin und überbrachte ihr vor allem Neuigkeiten aus der Familie. Er erzählte, dass Caesar Nervas beschlossen hatte, am sechsten Tag vor den Kalenden des Novembers Rosinas Onkel
Ulpius Traianus offiziell zu seinem Adoptivsohn zu ernennen.
»Und dieser Tag, liebe Ulpia Rosina, ist heute!«
»So steht also jetzt fest, dass Traianus sein Nachfolger wird. Meine Tante wird sich freuen.«
»Nicht nur sein Nachfolger, Ulpia Rosina. Er ist sogar schon zum Mitregenten ausgerufen worden.«
Rosina erhob sich und drehte sich zu der Haushälterin um, die in der Tür erschienen war.
»Ursa, bring uns von dem Wein aus Galizien. Es ist ein würdiger Anlass, meine Freunde und Verwandten, dass wir auf das Wohl meines Onkels trinken.«
»Ja, trinken wir auf sein Wohlergehen. Wenn es auch ein wenig verfrüht ist. Denn ein kaiserlicher Gesandter wird sich heute erst mit der Urkunde auf den Weg machen, um die Nachricht offiziell dem Statthalter zu überbringen.«
Annik schlürfte ebenfalls den schweren roten Wein, aber sie war beunruhigt, dass beinahe das gesamte Gesinde davon erfahren hatte, dass wichtige Botschaften aus Rom erwartet wurden. Es wäre nicht der erste Kurier, der in den Wäldern verschwunden war. Sie beschloss, dass es notwendig war, Falco eine Nachricht zu überbringen. Aber auf welche Weise sie das durchführen konnte, ohne bemerkt zu werden, das wusste sie nicht. Zumindest hatte sie noch etwas Zeit, denn wenn der Kurier heute von Rom aufbrach, würde er mindestens zwei Wochen brauchen, bis er in diese Gegend kam.
Es ergab sich zufällig vier Tage später eine Möglichkeit.
Der letzte Tag des Oktobers war einer der wichtigsten Feiertage für die Gallier,
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