Der Siegelring - Roman
nicht weiter nachzuhaken, aber über Martius Reaktion später nachzudenken. Es gab auch keine Gelegenheit mehr, weitere vertrauliche Fragen zu stellen, denn ein Rascheln gab Auskunft darüber, dass sich jemand näherte. Annik und Martius drehten sich mit einer schnellen Bewegung um.
»Erstecht mich nicht, erschlagt mich nicht, schießt nicht mit giftigen Pfeilen auf mich, sonst kommt der Fluch meiner Ahnen über euch und wird euch jede Nacht mit misstönenden Liedern wach halten!«
»Cullen!«
»Barde!«
»Habe ich euch bei euren Samain-Riten gestört?«
»Nein, Cullen. Ich habe meine Gebete beendet. Und dann kam Martius vorbei.«
»Und der hat auch den Matronen geopfert?
Martius straffte sich und meinte mit überheblichem Ton: »Ich habe andere Feste zu feiern.«
»Mir scheint, du hast dich von den alten Göttern abgewendet?«
»Sie nützen mir in meinem jetzigen Leben nicht mehr viel.«
Mit mildem Spott in der Stimme fragte der Barde: »Welcher nützt dir denn was? Der von Frieden und Feindesliebe säuselnde Christus dieser neuen Sekte doch bestimmt nicht!«
»Wer? Nein, so einer gewiss nicht. Mithras ist es, der sonnengeborene Sieger!«
»Der Stiertöter, aha. Und, hast du die sieben Weihestufen zum Pater durchlaufen?«
»Woher weißt du denn davon, Cullen? Bist du auch …?«
»Aber nicht doch, Martius. Doch so geheim ist das Geheimwissen der Magi auch wieder nicht, dass ein in den Traditionen bewanderter Barde nicht das eine oder andere erfährt. Was bist du? Leo oder Persa?«
Cullens Tonfall war noch immer ein wenig spöttisch, aber Martius beantwortete die Frage mit der Ernsthaftigkeit eines frisch Bekehrten.
»Du schätzt mich zu hoch ein. Noch nennt man mich einen Raben.«
»Wie passend für einen Kurier. Der Bote der Götter! Und doch, vergiss die Alten nicht, auch wenn du deinem neuen Gott den Stier opferst. Denn sie vergessen dich gewiss nicht.«
»Woher willst du das wissen? Mithras der Unbesiegbare steht über ihnen! Er ist es, der den endlosen Kampf gegen das Böse aufgenommen hat und es überwinden wird.«
»Natürlich. Er wird die Welt von allen Übeln erlösen. Das sagen die Christen von ihrem Gott auch. Sag mal, Martius, wovor hast du eigentlich so viel Angst?«
Annik mischte sich ein, denn sie befürchtete, dass der
respektlose Barde Martius zu heftigen Reaktionen verleiten würde.
»Cullen, wo bleibt deine Toleranz?«
»Oh, überall. Ich verbreite sie weit um mich herum. Ich verstehe mich mit Römern und Germanen, griechischen Händlern und nordgallischen Barbarenfürstinnen. Ich bin nicht heikel. Trotzdem frage ich mich oft mit großem Erstaunen, was die Menschen dazu treibt, Göttern zu dienen, die ihnen versprechen, das Böse in der Welt zu besiegen. Dieser Christus ist auch so einer, den sie als Erlöser feiern. Wie Mithras. Und mir scheint, es sind regelmäßig solche Menschen, die große Angst vor irgendetwas haben, die sich diesen Göttern anschlie ßen.«
»Ich habe vor nichts Angst, du Dummkopf. Was glaubst du denn, was in den Initiationen, den Einweihungsriten meines Glaubens, von uns gefordert wird? Wer da Angst hat, der kann gleich vor dem Tempel sitzen bleiben und um Almosen bitten!«
»Ja, sie treiben euch die Angst vor dem Tod aus. Seltsam, Gallier, dass du das nötig hast. Denn die Weisen sagen, dass der Tod nur der Übergang in die andere Welt ist. Und diese Welt, Martius, ist uns an Tagen wie heute zugänglich. Warum feierst du Samain nicht mehr?«
»Die Vergangenheit liegt hinter mir. Ich schaue nach vorne, nicht zurück auf die vermoderten Knochen meiner Vorfahren.«
»Ja, Martius, das tust du.«
Erstaunlicherweise klang Cullen betrübt, und Annik sagte: »Ich habe ebenfalls meine eigene Form gefunden, mit den Göttern zu sprechen, Cullen. Du weißt, wir sind Fremde in diesem Land, und ich hoffe, die Matronen eures Stammes sind meinen Opfern und Gebeten wohlgesonnen.«
»Solange deine Bitten aufrichtig sind und aus deinem Herzen kommen, werden sie das sein. Du hast Recht gehabt, mir fehlende Toleranz vorzuwerfen, Annik. Verzeih mir, Martius, wenn ich dich gereizt habe. Ich habe dir einige ersparte Prügel zu verdanken, die ich mit meinem losen Mundwerk provoziert habe.«
»Ach, schon gut, Cullen.« Martius grinste den schmächtigen jungen Mann an. »So viel werde ich die Traditionen stets achten, dass ich zu verhindern weiß, dass ein Barde den Hintern versohlt bekommt!«
»Gut, mein Freund! Dann nimm auch noch einen Rat von mir an. Gegen Ende
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