Der Siegelring - Roman
einem Gruß, andere verweilten länger. Viele, so viele waren in jener Sturmnacht ums Leben gekommen, zu jung, viel zu früh, auf entsetzliche Weise.
Ihrer gedachte Annik, die außer Rayan die einzige Überlebende ihres Stammes war, und die Stille der Nacht senkte sich über sie.
Ein Käuzchen schrie, und Annik erwachte aus ihrer Versunkenheit. Nicht nur der nachtjagende Vogel hatte sie zurückgerufen, auch andere Laute gab es. Rascheln, aufgescheuchtes Geflatter - Hufschlag. Sie tastete nach dem Dolch, den sie am Gürtel trug, doch beunruhigt war sie eigentlich nicht. Es zeigte sich, dass ihre Gelassenheit berechtigt war, denn der Mann, der von dem Lichtschein angelockt worden war, rief erstaunt aus: »Annik!«, und sprang vom Pferd.
»Martius! So spät noch unterwegs?«
Martius räusperte sich und sagte betont lässig: »Dienstlich. Botschaften können nicht warten.«
»O ja, natürlich. Kommst du oder gehst du?«
»Ich reite zum Quartier zurück. Aber was machst du hier mitten im Wald um diese Zeit?«
»O Martius, du aufrechter Römer! Hast du sogar schon vergessen, dass heute Samain ist?«
Sie deutete auf die Opfergaben vor dem Weihestein.
»Die alten Götter - nun, ich habe sie zurückgelassen. Ich bin Mitglied eines anderen Kultes geworden und verehre jetzt Mithras. Wie beinahe alle meine Freunde.«
Annik nickte verstehend. Ja, natürlich würde Martius nicht den alten Traditionen treu bleiben, es gab keine Priester, die ihn erinnerten und keine heiligen Orte für ihn, die er aufsuchen konnte. Aber bevor sie mit ihm darüber sprechen konnte, wollte sie zuallererst ihre Nachricht an Falco an ihn weitergeben.
»Siehst du den Praefecten heute noch, Martius?«
»Möglicherweise. Auf jeden Fall aber morgen früh, denn ich habe Botschaften für ihn.«
»Dann füg eine weitere von mir hinzu.«
»Von dir?«
»Ja, Martius. Und zwar eine sehr vertrauliche und wichtige.«
»Na dann los!«
Sie erzählte ihm in kurzen Worten von dem Besuch, der über Traians Adoption berichtet hatte und den erwarteten kaiserlichen Gesandten.
»Wenn es einen Informanten auf dem Gut gibt, dann werden es diejenigen, die hier Unruhe stiften, erfahren haben. Der Verwandte von Ulpia Rosina kam von Confluencia mit dem Schiff, er blieb nur eine Nacht und ritt am Morgen weiter. Ich glaube nicht, dass er diese Neuigkeit auf dem Markt ausgestreut hat.«
»Und was soll Falco tun?«
»Den Kurier mit der kaiserlichen Urkunde wenn möglich schützen. Jemanden wie ihn zu überfallen, das ist genau der Streich, den sie gerne spielen.«
»So wie sie auch Valerius Corvus überfallen haben?«
»Möglich. Ich weiß es nicht.«
»Aber du weißt, wer sie sind?«
Annik zuckte mit den Schultern und meinte: »Du doch auch.«
»Ja.« Martius sah in dem spärlichen Licht des Lämpchens zweifelnd zu Annik hin. »Du weißt, was das bedeutet, wenn ich Falco berichte, dass auch die hiesigen Gallier von dem Gesandten wissen?«
»Er soll den Mann und sein Gefolge schützen, einen Überfall verhindern und nicht die Einheimischen angreifen. Er ist ein besonnener Mann, dem an Ruhe und Ordnung liegt. Oder zumindest hatte ich bisher diesen Eindruck!«
»Er schon, aber mein Decurio hat eine andere Auffassung von Ruhe und Ordnung.«
»Und wer hat das Sagen bei euch? Der Decurio oder der Praefect?«
»Schon gut, ich werde Falco deine Botschaft überbringen. Ich habe ja auch deinen Herrn sicher in die Stadt geleitet, wie du mir aufgetragen hast. Er ist wirklich ein harter Brocken, dieser Valerius Corvus. Wir mussten sogar eine Ausrede erfinden, um zwischendurch Rast zu machen.«
»Danke.«
»Keine Ursache. Wo hat man ihn denn überfallen?«
»Hier in der Nähe. Ein einzelner Baumschütze, würde ich sagen.«
»Hässlich. Er hätte ihn umbringen können.«
»Das hätte er.«
»Also absichtlich nur verletzt?«
»Das vermute ich. Es gab - andere Störungen dieser Art.«
»Welche?«
»Oh, eher harmlos. Meine Herrin wurde einmal in den Wald gelockt und geängstigt.«
Martius drehte sich abrupt zu dem Weihestein um, so dass Annik sein Gesicht nicht sehen konnte. Aber es schien ihr ein Hauch von Entsetzen in seiner Stimme zu klingen, als er sagte: »Rosi …. äh - Ulpia Rosina?«
»Ja, Ulpia Rosina. Du hast dir ihren Namen gut gemerkt.«
»Warum auch nicht. Valerius Corvus hat mir schon mehrmals Botschaften an sie mitgegeben. Sie ist eine hübsche, kleine Frau, die man durchaus im Kopf behalten kann.«
»Ja, das ist sie.«
Annik beschloss,
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