Der Siegelring - Roman
sowohl in ihrer Heimat als auch hier, weiter im Süden. Samain, das Ende des Jahres, die
Zeit, um Bilanz zu ziehen, vor allem aber auch der Tag, an dem es möglich war, durch die Schleier in die andere Welt zu schauen und mit denen, die dort weilten, Kontakt aufzunehmen. Es gab Rituale bei den Einheimischen, aber ihnen schloss Annik sich nicht an. Deren Ahnen waren nicht die ihren, und sie wollte den Tag lieber für sich selbst verbringen. Sie hatte Ulpia Rosina von den Bräuchen erzählt und die Erlaubnis erhalten, über ihre Zeit verfügen zu dürfen, wie sie es für richtig empfand. Darum hatte sie sich von Charal den Schlüssel zur hinteren Pforte geben lassen. In der abendlichen Dämmerung verließ sie das Gut durch dieses Törchen, und als sie hinter sich abschloss, bemerkte sie erneut Hufspuren. Dabei fiel ihr zufällig auf, dass das Pferd ein Hufeisen mit einem seltsam ausgebrochenen Rand hatte. Annik lächelte. Ulpia Rosina hatte wieder Besuch, schien es, denn auch in der Werkstatt flackerte ein schwaches Lichtchen. Besser hier auf dem umzäunten Gutsgelände als draußen im Wald, dachte sie.
Es war zwar kühl und der Boden feucht, aber noch regnete es nicht, als sie die kleine Lichtung erreichte, um an dem Weihestein ihre Gebete zu sprechen und ihre Opfer darzubringen. Ein Eichhörnchenpaar saß davor und knabberte an den Nüssen, die in der Schale lagen. Auch Weizenkörner, Blütenblätter und ein paar Beeren zeugten davon, dass schon andere vor ihr der Toten gedacht hatten. Der Platz aber war wie üblich sehr ordentlich, das gefallene Laub und abgebrochene Ästchen sorgsam entfernt und das Gras um den Altar geschnitten. Annik hatte eine tönerne Öllampe mitgebracht und stellte sie auf einen flachen Stein vor den Matronenstein. Ihre kleine Flamme hüllte ihn und seine nächste Umgebung in tanzendes, gelbes Licht. In ihrem Korb hatte sie auch die Küchlein mitgebracht, die sie im Laufe
des Tages gebacken hatte und einen kleinen Krug Wein. Einen der Kekse und einige Tropfen Wein gab sie als Opfer den drei Matronen, der jungen in der Mitte und den beiden älteren in den runden Hauben rechts und links davon. Dann ließ sie sich in ihren weiten Kapuzenmantel gehüllt im Gras nieder und rief die Geister der Vergangenheit, um mit ihnen Zwiesprache zu halten, wie sie es gewohnt war.
Es war kein einseitiges Gespräch, Annik wusste genau, wen sie treffen würde, wenn sich für sie die Nebel zwischen den Welten hoben. Sie hatte auch keine Angst vor dem, was sie sehen würde. Denn es waren ihre Familie, ihre Verwandten, ihr Volk, die nun in der Anderwelt ihr neues Leben lebten. Briag der Schwarze, ihr Vater, hieß sie willkommen, und neben ihm stand Deneza, ihre Mutter, genauso blond wie sie selbst, eine beherzte und mutige Frau, die es lachend mit allen Schwierigkeiten aufgenommen hatte, die das Leben an der Seite eines raubeinigen Mannes mit sich brachten. Ihre beiden jüngeren Schwestern, eine schwarz und wild wie ihr Vater, die andere dunkler blond und nachdenklich, tauchten vor ihren inneren Augen auf und eilten in ihre Umarmung.
Annik berichtete ihren Eltern und Schwestern von ihrem Leben in den vergangenen zwölf Monaten, lauschte auf ihren Rat, ihren Tadel und ihre billigenden Worte. Als sie schließlich im Nebel verschwanden, lag leise Trauer auf Anniks Seele, und sie wurde noch stärker, als Jord auftauchte, der Mann, dem sie angetraut gewesen war und dessen Sohn sie geboren hatte. Er war, wie alle, die in der Anderwelt lebten, nicht gealtert, er war ein junger Mann mit klaren, sehr klugen Augen. Der Sohn eines Druiden, der selbst die Gesetze und die Weisheitslehren ihres Volkes studiert hatte und der bestimmt war
zu einem der wichtigsten Ratgeber der Herrschenden. Sie hatte ihn geliebt, auch wenn die Ehe mit ihm arrangiert worden war. Und er hatte ihr warme Freundschaft und Zärtlichkeit entgegengebracht, wenn auch vielleicht nicht die tiefe Liebe, die sie als sehr junges Mädchen sich gewünscht hatte.
Die Kehle allerdings schnürte sich ihr zu, als sie das Kind auf sich zulaufen sah. Den Sohn, den sie verloren hatte, der nie näher kam, der nie ganz die Nebel durchschritt und doch immer die Arme nach ihr ausstreckte. Sie hatte keine Worte, die sie dem Mann und dem Kind zuflüstern konnte, doch es schien, dass die Geister der Verstorbenen sie auch so verstanden, denn nach einer Weile fühlte sie warmen Trost in sich aufsteigen. Viele andere mehr tauchten in den Nebeln auf, manche flüchtig, nur zu
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