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Der Sieger bleibt allein (German Edition)

Der Sieger bleibt allein (German Edition)

Titel: Der Sieger bleibt allein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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seiner Seele vor sich ging. Jahrelang hatte er stumm die Drohungen von Einzelnen oder von Gruppen ertragen und diese, sobald er sich stark genug fühlte, diskret liquidiert. Es hatte ihn Mühe gekostet, sein Leben nicht von den schlechten Erfahrungen, die er gemacht hatte, bestimmen zu lassen. Seine Ängste und seine Furcht hatte er aber immer im Büro gelassen; Ewa sollte ein ruhiges Leben führen und von den Wechselfällen, denen jeder Geschäftsmann ausgesetzt ist, nichts mitbekommen. All das hatte er ihr erspart, und sie hatte es weder begriffen noch gewürdigt.
    Der Geist des Mädchens beruhigt ihn mit diesen Überlegungen, ergänzt diese aber noch durch einen Gedanken, der ihm bislang noch nicht gekommen war: Er sei nicht hier, um die Frau, die ihn verlassen hatte, zurückzuerobern, sondern um endlich zu begreifen, dass diese Frau seine Liebe nicht wert sei, dass er all die Jahre gelitten, monatelang geplant, ihr immer vergeben habe, dass er großzügig und geduldig gewesen sei.
     
    Ein, zwei, drei sms hat er Ewa geschickt, und sie hat nicht reagiert. Es wäre ein Leichtes für sie gewesen, festzustellen, in welchem Hotel er abgestiegen war. Fünf oder sechs Anrufe bei Luxushotels hätten das Problem zwar nicht gelöst, da er sich unter einem anderen Namen und einem anderen Beruf eingetragen hatte; aber wer da suchet, der wird finden.
    Er hat die Statistiken gelesen: Cannes hat nur 70000 Einwohner, doch während des Film-Festivals leben hier dreimal so viele Menschen, wobei viele der Gäste, die alljährlich anreisen, immer im selben Hotel absteigen. Wo ist sie? Im selben Hotel wie er, sie besucht dieselbe Bar – schließlich hat er sie dort am vorangegangenen Abend gesehen. Dennoch geht Ewa nicht auf der Suche nach ihm über die Croisette. Sie ruft nicht gemeinsame Freunde an, um herauszubekommen, wo er ist. Mindestens einer hat alle Angaben, denn Igor hat sich gedacht, dass die Frau, die er für die Frau seines Lebens gehalten hat, sich mit diesem in Verbindung setzen würde, sobald sie erfährt, dass er in der Nähe ist.
    Der Freund hat Anweisungen erhalten, ihr zu sagen, wie sie sich treffen könnten – aber bislang ist nichts passiert, absolut nichts.
     
    Igor zieht sich aus. Geht unter die Dusche. Ewa verdient das alles nicht. Heute Nacht wird er sie treffen, da ist er sich fast sicher, aber das wird immer unwichtiger. Vielleicht geht es ja bei seiner Mission um mehr als einfach nur darum, die Liebe eines Menschen wiederzuerlangen, der ihn verraten hat, der Negatives über ihn verbreitet. Der Geist des Mädchens mit den dichten Augenbrauen erinnert ihn an eine Geschichte, die ihm ein Afghane in einer Gefechtspause erzählt hat:
     
    Hoch oben in den einsamen Bergen von Herat liegt eine Stadt. Nach jahrzehtelanger Misswirtschaft hatte die Stadtbevölkerung ihre arroganten und egoistischen Herrscher satt. Da aber die bestehende Monarchie nicht ohne weiteres abgeschafft werden konnte, wurde die Loya Jirgah, der Rat der Stammesfürsten, einberufen.
    Die Loya Jirgah beschloss dann Folgendes: Alle vier Jahre sollte ein neuer König gewählt werden, der absolute Macht besaß. Er konnte die Steuern erhöhen, unbedingten Gehorsam verlangen, jede Nacht eine andere Frau haben, essen und trinken, so viel er wollte. Er konnte die schönste Kleidung tragen, die besten Tiere reiten. Kurz und gut: Jede seiner Anweisungen musste befolgt und ihre Berechtigung durfte nicht in Frage gestellt werden.
    Allerdings musste er nach diesen vier Jahren dem Thron entsagen und den Ort verlassen. Mitnehmen durfte er nur seine Familie und die Kleidung, die er am Leibe trug. Allen war klar, dass er nur wenige Tage überleben würde, denn ringsum war nur eine riesige, im Winter eisige und im Sommer unerträglich heiße Wüste.
    Die Weisen der Loya Jirgah glaubten, niemand würde es wagen, die Macht zu übernehmen und am Ende würde das Volk wieder ihnen die Wahl des Herrschers überlassen. Der Beschluss wurde öffentlich verkündet: Jedem stand es frei, den Herrscherthron zu besteigen – zu den bekannten harten Bedingungen. Anfangs meldeten sich verschiedene Männer, so zum Beispiel ein alter krebskranker Mann, der jedoch während seiner Regierungszeit mit einem Lächeln im Gesicht an seinem Leiden starb. Ihm folgte ein Verrückter, doch der trat wegen seines Geisteszustandes bereits vier Monate später zurück (er hatte die Regeln falsch verstanden) und verschwand auf Nimmerwiedersehen in der Wüste. Von da an hieß es, der Thron

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