Der Sieger bleibt allein (German Edition)
hatte ihm den Weg gewiesen, den er gehen musste. Selbstaufopferung war nicht genug. Letztlich würde Ewa unter seiner Abwesenheit leiden, sie würde niemanden haben, mit dem sie in den langen Nächten und nimmer endenden Tagen reden könnte, in denen sie auf seine Freilassung wartete. Sie würde jedes Mal weinen, wenn sie sich vorstellte, wie er frierend auf die weißen Gefängniswände starrte. Und wenn die Zeit gekommen war, endlich zum Haus am Baikalsee aufzubrechen, würde das Alter ihnen wahrscheinlich nicht mehr erlauben, all die Abenteuer zu erleben, die sie gemeinsam geplant hatten.
Der Polizist kommt aus dem Imbiss heraus zurück zu ihm.
»Sind Sie immer noch hier? Haben Sie sich verlaufen? Brauchen Sie Hilfe?«
»Nein, danke.«
»Sie sollten meinem Rat folgen und sich ausruhen. Um diese Zeit kann die Sonne ziemlich gefährlich sein.«
Igor kehrt ins Hotel zurück, duscht, bittet die Dame an der Rezeption, ihn um 16 Uhr zu wecken – er würde so ausreichend Zeit zum Ausruhen haben, um wieder die notwendige geistige Klarheit zu erlangen und nicht solchen Unsinn zu machen wie vorhin, als er seine Pläne fast aufgegeben hätte.
Er ruft im Restaurant an und reserviert einen Tisch auf der Terrasse. Er würde nach dem Aufwachen dort gern ungestört einen Tee trinken. Dann schaut er an die Decke und wartet auf den Schlaf.
Egal, woher die Diamanten kommen, Hauptsache, sie funkeln.
In dieser Welt war nur die Liebe von Belang. Alles andere war nebensächlich. Igor spürt wie schon oft in seinem Leben ein Gefühl vollkommener Freiheit. Die Verwirrung legt sich allmählich, die Klarheit kehrt zurück.
Er hatte sein Schicksal in Jesu Hände gelegt. Jesus hatte entschieden, dass er seine Mission fortsetzen sollte.
Igor schläft ohne das geringste Schuldgefühl ein.
13 Uhr 55
Gabriela geht langsam zum angegebenen Treffpunkt. Sie muss ihre Gedanken ordnen, sich beruhigen. Jetzt können nicht nur ihre geheimsten Träume, sondern auch ihre finstersten Alpträume Wirklichkeit werden.
Ihr Handy klingelt. Es ist eine sms von ihrer Agentin:
»herzlichen glückwunsch.
akzeptiere alles. xxx.«
Gabriela schaut auf die Menge, die ziellos auf der Croisette auf und ab zu gehen scheint. Sie hat ein Ziel! Sie ist nicht eine dieser Abenteuerinnen, die nach Cannes kommen und überhaupt nicht wissen, wo sie anfangen sollen. Sie hat einen soliden Lebenslauf, respektable Berufserfahrung, hat niemals versucht, ihre körperlichen Reize auszuspielen, um an ihr Ziel zu gelangen. Sie war begabt! Deshalb hatte man sie für das Treffen mit dem berühmten Regisseur ausgewählt – sie hatte es ohne fremde Hilfe geschafft, ohne aufreizend angezogen zu sein, ohne vorab ihre Rolle studieren zu können.
Selbstverständlich würde der Regisseur das alles in Betracht ziehen.
Sie geht in einen Imbiss – heute hat sie noch überhaupt nichts gegessen –, und mit dem ersten Schluck Kaffee werden ihre Gedanken realistischer.
Warum war ausgerechnet sie ausgewählt worden?
Was für eine Rolle würde sie in dem Film überhaupt spielen?
Und wenn nun Mr. Gibson, wenn er das Video sah, feststellte, dass sie doch nicht die Richtige war?
›Beruhige dich! Du hast nichts zu verlieren!‹, versucht sie sich einzureden. Doch ihre innere Stimme lässt nicht locker:
›Du stehst vor der einzigen Chance deines Lebens.‹
Es gibt nicht nur eine einzige Gelegenheit, das Leben gibt einem immer noch eine weitere Chance. Doch die Stimme beharrt weiter:
›Das mag sein. Aber wie viel Zeit bleibt dir noch? Du weißt doch, wie alt du bist!‹
Selbstverständlich. Fünfundzwanzig Jahre, und das ist schon ziemlich alt, auch für Schauspielerinnen, die sich redlich bemühen... usw.
Solche Gedanken kann sie jetzt überhaupt nicht brauchen. Sie bezahlt das Sandwich und den Kaffee und geht zum Kai. Sie zwingt sich, optimistisch zu sein, rekapituliert im Kopf die Regeln des positiven Denkens, an die sie sich noch erinnern kann.
›Wenn du an den Sieg glaubst, wird der Sieg an dich glauben.‹
›Nimm die Herausforderung an, riskiere alles! Weise alles von dir, was dir eine bequeme Welt verheißt!‹
›Talent ist eine universelle Gabe. Aber es braucht viel Mut, um es zu benutzen. Habe keine Angst, die Beste zu sein.‹
Es reicht nicht, sich die Worte der großen Meister vorzusagen, man muss auch den Himmel um Hilfe bitten. Sie beginnt zu beten, wie immer, wenn sie Angst hat. Sie hat das Gefühl, ein Gelübde ablegen zu müssen, und
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