Der Sieger bleibt allein (German Edition)
überfallen, zerstören, töten. Und keiner lernt, sich zu verteidigen. Wir sind alle anderen Menschen ausgeliefert, die mächtiger sind als wir.«
»Das stimmt. Ich nehme an, dieses Holzrohr ist ihre Verteidigungswaffe.«
Igor dreht am oberen Teil des Gegenstandes. Vorsichtig wie ein Künstler, der letzte Hand an sein Meisterwerk legt, nimmt er den Deckel ab. Es handelt sich letztlich nicht um einen Deckel, sondern den Kopf von etwas, was wie ein langer Nagel aussieht. Die Sonnenstrahlen brechen sich in dem Metall.
»Bei der Gepäckkontrolle am Flughafen kämen Sie mit so etwas im Koffer bestimmt nicht durch!«, sagt Maureen lachend.
»Allerdings.«
Maureen genießt das Gefühl, mit diesem höflichen, gutaussehenden, möglicherweise auch reichen Mann zusammen zu sein, der sie notfalls auch beschützen kann.
»Selbstverständlich muss man mit diesem Ding da gut umgehen können und genau wissen, wohin man stechen muss. Wegen seines geringen Durchmessers ist es zerbrechlich, auch wenn es aus Stahl ist. Und es ist zu klein, als dass es großen Schaden anrichten könnte. Ohne Präzision kein Ergebnis.« Er hebt die feine Klinge an und hält sie Maureen ans Ohr. Ihre erste Reaktion ist Angst, die dann in Erregung übergeht.
»Diese Stelle hier beispielsweise ist geradezu ideal. Etwas höher, und die Schädelknochen schützen vor dem Einstich. Etwas tiefer wird die Halsschlagader getroffen, der Mensch wird vermutlich sterben, kann aber vorher noch reagieren. Wenn er bewaffnet ist, kann er auf mich schießen und wird vermutlich auf die geringe Distanz auch treffen.«
Die Klinge wandert an ihrem Körper herunter. Streicht über ihre Brust, und Maureen folgert daraus: Er will sie beeindrucken und zugleich erregen.
»Ich hätte nicht gedacht, dass jemand aus der Telekommunikationsbranche so gut über Mordinstrumente Bescheid weiß. Aber so wie Sie es darstellen, ist es ziemlich schwer, mit diesem Ding da zu töten.«
Das sollte heißen: ›Ich bin an dem interessiert, was Sie mir da erzählen. Sie interessieren mich. Nehmen Sie bitte als Nächstes meine Hand, damit wir zusammen den Sonnenuntergang betrachten können.‹
Die Klinge gleitet über ihre Brust, bleibt dort aber nicht stehen. Schließlich hält sie etwas unterhalb ihrer Achselhöhle inne.
»Hier bin ich auf der Höhe Ihres Herzens. Rundherum liegen die Rippen als natürlicher Schutz. Würden wir kämpfen, wäre es unmöglich, Ihnen mit dieser kleinen Waffe Schaden zuzufügen. Sie würde mit Sicherheit eine Rippe treffen, und selbst wenn sie in den Körper eindringen würde, wäre die dadurch hervorgerufene Blutung nicht dafür ausreichend, den Gegner zu schwächen. Sie würden möglicherweise den Stich nicht einmal spüren. Aber an dieser Stelle hier ist er tödlich.«
Was macht sie hier an diesem einsamen Ort mit einem Wildfremden, der über so makabre Dinge redet? Im nächsten Augenblick spürt sie etwas wie einen elektrischen Schlag, der sie lähmt – die Hand hat die Klinge in ihren Körper gestoßen. Sie glaubt zu ersticken, will Atem holen, verliert aber sofort das Bewusstsein.
Igor umarmt sie – so wie er es schon mit seinem ersten Opfer getan hat. Doch diesmal rückt er den Körper so zurecht, dass er sitzenbleibt. Er streift Handschuhe über, dreht Maureens Kopf so, dass er ihr nach vorn auf die Brust fällt.
Jemand, der zufällig auf diesen einsamen Pier hinausblickt, würde eine Frau sehen, die auf ihrer Bank eingenickt ist – möglicherweise erschöpft von ihrer Suche nach einem Produzenten und nach einem Filmverleiher.
Hinter der alten Lagerhalle, wo er sich immer gern versteckt, weil er hier unbehelligt Paaren auflauern und masturbieren kann, während er zuschaut, wie sie Zärtlichkeiten austauschen, ruft jetzt ein Junge aufgeregt die Polizei an. Er hat alles gesehen. Anfangs hat er es für eine Spielerei gehalten, doch am Ende hat der Mann tatsächlich die Klinge in die Frau gestoßen! Der Junge muss jetzt warten, bis die Polizei kommt, und darf sein Versteck nicht verlassen. Dieser Verrückte könnte jeden Augenblick zurückkommen, und dann wäre er verloren.
Igor wirft die Klinge ins Meer und geht zurück zum Hotel. Diesmal hat sein Opfer den Tod selbst gewählt. Er hatte allein auf der Hotelterrasse gesessen, als Maureen zu ihm gekommen war. Er hätte nie geglaubt, dass sie in einen Spaziergang mit einem Wildfremden zu einem abgelegenen Ort einwilligen würde – doch sie hatte es getan. Sie hatte jede Möglichkeit
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