Der Sieger bleibt allein (German Edition)
überstanden, nämlich das untätige Warten, das jeder Modenschau vorausgeht. Die Mädchen schalten ihre iPods und Handys aus. Die Make-up-Stylisten legen letzte Hand an. Die Hairstylisten richten widerspenstige Haarsträhnen.
Jasmine setzt sich in der Garderobe vor den Spiegel und lässt die Leute ihre Arbeit machen.
»Werden Sie nur nicht nervös, weil es Cannes ist!«, sagt die Make-up-Stylistin.
»Ich bin nicht nervös.«
Warum sollte sie auch? Ganz im Gegenteil. Jedes Mal, wenn sie auf den Laufsteg hinausgeht, fühlt sie sich wie im Rausch, spürt sie den berühmten Adrenalinschub. Die Make-up-Stylistin ist gesprächig, erzählt etwas über die Falten berühmter Leute, die durch ihre Hände gegangen sind, preist eine neue Creme an. Sie sagt, sie habe den ganzen Zirkus satt, und fragt Jasmine, ob sie eine Einladung zu einer Party habe. Jasmine lässt das alles geduldig über sich ergehen. In Gedanken ist sie weit weg, in Antwerpen, an dem Tag, an dem sie beschlossen hatte, die beiden Fotografen aufzusuchen.
Es hatte Schwierigkeiten gegeben, aber am Ende war alles gut geworden.
So würde es auch heute sein. So wie damals, als sie in Begleitung ihrer Mutter – die sich nichts sehnlicher wünschte, als dass ihre Tochter so bald als möglich aus ihrer Depression herausfände – bei dem Ersten der beiden Fotografen klingelte, die sie auf der Straße angesprochen hatten. Die Tür führte in einen kleinen Raum mit einem von Fotonegativen übersäten durchsichtigen Lichttisch. Neben dem Fotografen stand eine etwa 40-jährige Dame, die Jasmine von Kopf bis Fuß musterte, ehe sie sich lächelnd als Eventmanagerin vorstellte.
»Ich bin sicher, dass Ihre Tochter eine große Zukunft als Model hat«, sagte die Frau, als sie sich gesetzt hatten.
»Ich begleite meine Tochter nur«, antwortete Jasmines Mutter. »Wenn Sie ihr etwas zu sagen haben, wenden Sie sich bitte direkt an sie!«
Die Eventmanagerin stutzte verblüfft, dann nahm sie eine Karteikarte, notierte einige persönliche Daten und Maße und meinte dann beiläufig:
»Cristina ist kein guter Name für ein Model. Zu alltäglich. Das muss als Erstes geändert werden.«
›Cristina ist noch aus einem anderen Grund kein guter Name‹, hatte Jasmine da gedacht. ›Weil er zu einem Mädchen gehört, das an dem Tag gestorben ist, als es Zeugin eines Mordes wurde, der sie seither verfolgte, weil sie damals nicht den Mut gehabt hatte, den Mörder vor Gericht zu identifizieren. Als sie beschlossen hatte, alles zu verändern, war ihr zuerst ihr neuer Name eingefallen. Damit wollte sie beginnen. Daher hatte sie die Antwort gleich parat gehabt:
»Jasmine Tiger. Zart wie eine Blüte und gefährlich wie ein Raubtier.«
Der Eventmanagerin schien das zu gefallen.
»Model zu werden ist nicht einfach. Und du hast das Glück, entdeckt worden zu sein. Selbstverständlich muss noch vieles geregelt werden, aber dafür sind wir ja da. Wir werden Fotos von dir machen und sie an spezielle Agenturen schicken. Du wirst auch eine Set Card brauchen.«
Sie wartete ab, dass Cristina fragte: ›Was ist eine Set Card?‹ Aber die Frage kam nicht, was die Eventmanagerin ebenfalls verblüffte.
»Du weißt offenbar schon, was eine Set Card ist – die Visitenkarte eines Models. Auf der Vorderseite findet sich neben den Angaben zu deinem Aussehen – Augenfarbe, Haarfarbe, Größe, Gewicht, Konfektionsgröße – ein besonders gutes Foto von dir. Auf der Rückseite sind mehrere Fotos in verschiedenen Outfits, Porträts, mal weniger, mal stärker geschminkt, damit man dich auch auswählt, wenn man jemanden möchte, der etwas älter aussieht. Deine Brüste...«
Kleine Pause.
»... deine Brüste sind vielleicht etwas größer als bei Models üblich.«
Die Eventmanagerin wandte sich an den Fotografen.
»Das müssen wir überspielen. Notieren Sie sich das.«
Der Fotograf notierte es sich. Cristina – die jetzt ganz schnell zu Jasmine Tiger wurde – hatte damit gerechnet, denn sie hatte vorher schon gedacht: ›Wenn sie mich zu Fotos einladen, werden sie feststellen, dass meine Brüste größer sind als bei Models üblich.‹
Die Eventmanagerin griff nach einer schönen Ledermappe und entnahm ihr eine Liste, die sie nun Punkt für Punkt durchging.
»Wir müssen einen Make-up-Stylisten kommen lassen. Und einen Friseur. Du hast keine Laufstegerfahrung, oder?«
»Nein.«
»Nun, auf dem Catwalk geht man nicht so wie auf der Straße, und vor allem nicht so schnell, weil du sonst mit deinen
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