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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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dir die Geschichte von den Kindern des Silbernen Volkes nicht erzählt. Aber was wirst du tun, wenn Hirguan, das Böse, deine Witterung aufnimmt und dich schließlich einholt? Wie viel Schmerzen könntest du ertragen, wenn man dich zwänge, mein Geheimnis preiszugeben?«
    »Ich würde nie…!«
    »Schwöre nichts, was du nicht halten kannst, Jerry.«
    Wieder senkte sie den Blick. Saraf war im Recht, und sie wusste es. Sie hatte das Unheil in die Höhlen des Orion getragen, und die Last dieser Erkenntnis schnürte ihr die Kehle zu.
    Saraf griff nach ihrer Hand. Yeremi spürte die Wärme seiner Haut, das kraftvolle Leben, das seine Adern durchströmte, aber sie glaubte auch seine Schwermut zu fühlen. »Du darfst dir keine Vorwürfe machen«, sagte er sanft.
    Sie nickte und schwieg.
    Saraf drückte ermutigend ihre Hand. »Wären alle Menschen so wie du, dann könnte ich ihnen heute schon Einblick in das Gedächtnis des Silbernen Volkes gewähren.«
    Ihr Kopf fuhr nach oben. »Dann existiert das dem Knaben Saraf Argyr von Roca anvertraute Wissen immer noch?«
    »Ich bin der Einzige, der es noch hüten kann.«
    »Natürlich. Verzeih…«
    »Schon gut, Jerry.«
    »Was ist dieses ›Gedächtnis‹ eigentlich? Du sagtest einmal, die Knotenschnüre seien nur eine Abschrift davon. Ist es eine richtige Bibliothek aus Tontafeln, Schriftrollen oder Ähnlichem?«
    »Ich musste schwören, meine Lippen zu versiegeln – bis zum Tag des Aufbruchs der Silbernen zu den Grenzen des Horizonts. Deshalb darf ich dir keine Einzelheiten verraten. Nur so viel: Mein Volk vergisst nicht so schnell, was es einmal gelernt hat. Dadurch war es ihm möglich, in den Jahren des Exils viele der von den Inka gestohlenen Überlieferungen zurückzugewinnen und in die Knoten zu flechten, die dein Begleiter gestohlen hat.«
    Saraf musste keinen Namen nennen, um bei seiner Zuhörerin sogleich Wut aufwallen zu lassen. Für Al Learys selbstsüchtige Eigenmächtigkeit gab es keine Entschuldigung. In ihrer Erregung bemerkte Yeremi nicht einmal, wie unpräzise sich der Silbermann ausgedrückt hatte. Sie war vollauf damit beschäftigt, sich um die Sicherheit der hochkomplexen Knotenschnüre zu sorgen. Wenn diese auch nur einen winzigen Teil des kollektiven Gedächtnisses enthielten, dann durften sie – das hatte Saraf klar gemacht – auf keinen Fall in falsche Hände gelangen.
    Saraf schien ihre Gedanken zu erraten, denn er fügte hinzu: »Niemand außer mir kann die Azofa lesen.«
    Yeremi schüttelte zweifelnd den Kopf. »Wir leben hier in einer anderen Zeit, Saraf. Viele meiner Kollegen haben das Wort ›un-möglich‹ abgeschafft. Ihnen erscheint jedes Ziel erreichbar, wenn man ihnen nur genügend finanzielle Mittel und Zeit zur Verfügung stellt.«
    Auf Sarafs Stirn erschienen tiefe Falten. »Wie reich ist Jefferson H. Flatstone?«
    »Er schwimmt im Geld.«
    Der Silbermann nickte. »Dann sollten wir etwas unternehmen, um die heiligen Schriften des Silbernen Volkes zurückzubekommen.«

 
    DER KORPULENTE GARTENZWERG
     
     
     
    Pacific Grove (Kalifornien, USA)
    27. Dezember 2005
    8.54 Uhr
     
     
    Bellman’s Paradise verfügte über einen begehbaren Kleiderschrank, in dem ausschließlich Yeremis Garderobe aufbewahrt wurde. Ihre an der San Francisco Bay gelegene Wohnung in Berkeley war ähnlich komplett ausgestattet. Die meisten Sachen hatte sie allerdings seit Jahren nicht mehr getragen, manche sogar noch nie. Sie stammten noch aus einer Phase ihres Lebens, in der sie das mangelnde Selbstwertgefühl mit Einkaufsorgien bekämpft hatte. Gemessen an ihrem Wohlstand, lebte Yeremi ziemlich bescheiden. Der heimliche Rückzug aus dem Strandhaus konnte daher ohne Schrankkoffer vonstatten gehen.
    Natürlich musste der Hanussen-Nachlass in Carls Mercedes verstaut werden, außerdem ihr Notebook-Computer und einige persönliche Gegenstände. Letztere ließen sich bequem in einem der beiden blauen Eastpak-Rucksäcke unterbringen, die sie seit dem Auspacken nach der Rückkehr aus Guyana nicht mehr angesehen hatte. Bevor Yeremi ihr längst wieder fleckenlos sauberes Lieblings-Snoopy-Schlaf-T-Shirt dem leichten Kunststoffsack anvertraute, kontrollierte sie das Innere noch einmal auf tote Vogelspinnen, Tausendfüßler oder andere »Mitbringsel« aus dem Dschungel. Dabei machte sie eine überraschende Entdeckung. Der verstärkte Boden des Eastpaks konnte innen hochgeklappt werden, und darunter lag zusammengeknüllt ein blutiger Slip.
    Yeremis Kopf fuhr hoch, als hätte sie

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