Der silberne Sinn
Damit meinte Sandra nicht etwa eine Strecke zur Ertüchtigung feuriger Rosse, sondern den Golden Gate Park in San Francisco. Hier trafen sich die beiden Frauen des Öfteren zum Power Walking.
»Bin schon auf halbem Weg dorthin. Wenn Opa Carl mir den Porsche borgt, schaffe ich es rechtzeitig. Hast du wieder zu viele Marshmallows gegessen, oder warum zieht es dich so dringend auf die Marterstrecke?«
»Wir werden jemanden treffen, der dir einige Fragen beantworten kann.«
»Wo genau?«
»Unter Wilhelminas Flügeln.«
»Gut. Ich werde da sein.«
Im Frühling lockte Königin Wilhelminas Tulpengarten zahlreiche Touristen an. Zur Jahreswende verliefen sich dagegen eher wenige in das von hohen Bäumen umstandene Areal am John F Kennedy Drive, unweit des Great Highway. Der Ort war ideal für ein konspiratives Gespräch. Sandra hatte nicht etwa die Flügel eines blaublütigen Engels als Treffpunkt vorgeschlagen, sondern die einer hundertjährigen Windmühle, ein liebenswerter Anachronismus des Parks, ein gezähmtes Monster, das aus dem derzeit tulpenlosen Tulpengarten aufragte, als halte es wehmütig Ausschau nach einem wackeren Don Quichotte. Das Gebäude holländischen Zuschnitts hatte ursprünglich Wasser aus der Erde gepumpt, war aber mittlerweile nur noch ein malerisches Baudenkmal und beliebtes Fotomotiv. Hier, nahe dem Pazifik, begannen oder endeten oft die Sturmschrittexkursionen der beiden Freundinnen.
Bereits kurz nach dem Eintreffen in Bellman’s Paradise hatten sich Yeremi und ihr Begleiter im Porsche Carrera wieder auf den Weg gemacht. Der Sportwagen war nur einer von vielen Vertretern deutscher Automobilbaukunst in Carls artenreichem Fahrzeugzoo. Saraf hatte unbedingt mitfahren wollen. Unterwegs klarte der Himmel auf. Es schien doch noch ein typischer kalifornischer Wintertag zu werden: Einheimische trugen dicke Jacken, die aus dem kühleren Norden eingeflogenen Touristen kurzärmelige Hemden.
Yeremi ließ den Wagen in der Cabrillo Street stehen, ausreichend weit vom Treffpunkt entfernt. Sie erreichten die Windmühle kurz vor vier Uhr nachmittags. Sandra wartete bereits.
Die Journalistin trug olivgrüne Cargohosen und ein enges sandfarbenes T-Shirt mit langen Ärmeln. Sie besaß rotblondes, kurz gelocktes Haar, ein rundes, stupsnasiges, erstaunlich wandlungsfähiges Gesicht sowie einen sich periodisch bemerkbar machenden Heißhunger auf Süßigkeiten. Zudem beklagte Sandra Schroeder leidenschaftlich gern ihren »Zwergenwuchs von lächerlichen ein Meter einundsechzig, der ihre üppigen Proportionen über Gebühr« betone. Sie behauptete hartnäckig, dick zu sein, aber tatsächlich besaß sie eine typische weibliche Durchschnittsfigur. In ihrem Körper gab es einige schwer kontrollierbare Fettdepots, die sie – wie die meisten ihrer Leidensgenossinnen – in einem aussichtslosen Kampf abzubauen trachtete. Selten hielt sie eine Diät länger als vierundzwanzig Stunden durch. Als Ausgleich fackelte sie im schweißtreibenden Power Walking Kalorien ab. Yeremi zog einen anständigen Dauerlauf zwar dem strammen Gehen mit hektisch rudernden Armen vor, doch um ihrer langjährigen Freundschaft willen ließ sie sich immer wieder von Sandra auf die »Trabrennbahn« entführen.
»Ist er das?«, fragte die Wartende im Anschluss an eine herzliche Umarmung und warf dabei einen Bände sprechenden Blick auf Saraf Argyr.
Yeremi stellte sich ahnungslos. »Wer?«
»Jetzt tu nicht so! Der Silbermann natürlich.«
»Ach so, Saraf Argyr meinst du. Ja, ich würde sagen, das ist er.« Yeremi zog ihren Begleiter am Arm zu sich heran und machte die beiden miteinander bekannt.
Sandra stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte Yeremi ein einzelnes Wort ins Ohr, das sie auffallend in die Länge zog: »Süüüß!«
Saraf hatte es trotzdem gehört, lächelte und sagte: »Du bist auch süß, Sandra Schroeder. Ich danke dir für deine Hilfe.«
Während Sandra rot wurde, kräuselte sich Yeremis Stirn wie ein sturmgepeitschtes Gewässer. Unwirsch knurrte sie: »Was soll das hier werden, ein Wettbewerb der Zuckerbäcker? Er ist doch kein Marshmallowmännchen!« Saraf blickte sie auf eine wissende und für Yeremi ausgesprochen ernüchternde Weise an. Schnell fügte sie, in erheblich gemäßigterem Ton, hinzu: »Wo bleibt eigentlich der große Unbekannte?«
»Du meinst Accolon?«, fragte Sandra. Ihr bewundernder Blick hing immer noch an Saraf.
»Ist das sein Name? Klingt merkwürdig.«
Endlich sah Sandra ihre Freundin an.
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