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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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und er durch das Loch rutschte.
    In Wirklichkeit war es keine Hand gewesen, der er die Rettung verdankte, sondern die Kugel aus einer Feuerwaffe. Sie hatte den jungen Saraf Argyr ins Gesäß getroffen. Die stark blutende Wunde wurde notdürftig verbunden – bereits im Kindesalter lernten die Silbernen das Heilen. Gestützt von den Seinen, führte der Verletzte die Kinder durch einen unterirdischen Wassertunnel, der die Bewohner Sacsahuamans in Belagerungszeiten vor dem Verdursten hatte bewahren sollen.
    Die Flucht gelang. Doch Saraf Argyr hatte viel Blut verloren. Einige Zeit versteckten er und die Kinderschar sich im Dschungel nordöstlich der Hauptstadt. Fürst Rocas Ahnungen waren grausame Gewissheit geworden, wie einige Kundschafter der Kinder bald erfuhren: Die Spanier hatten den Hüter des königlichen Schatzes und das Silberne Volk ohne Gnade hingeschlachtet.
    Bald erholte sich Saraf Argyr von seiner Verletzung und führte die Seinen über das große Gebirge immer weiter nach Nordosten. Er suchte nach einem Zufluchtsort, an dem sie sich verbergen konnten, bis die Weissagung der alten Frau sich erfüllen und er das Silberne Volk zu einem neuen Anfang hinter dem Horizont führen würde. Mondjahre der Wanderung vergingen, bis man endlich die Höhlen unter dem Dach des Waldes entdeckte.«
    Minutenlanges Schweigen hing zwischen den beiden wie ein loses Tau, das sie vereinte und zugleich auf Abstand hielt. Das Zwielicht im Zimmer kam Yeremi gelegen. Sarafs Schilderungen hatten sie tief berührt. Verstohlen blickte sie in sein Gesicht. Seit dem Fernsehauftritt hatte er sich nicht mehr rasiert. Der Vier-Tage-Bart tat seiner würdevollen Erscheinung jedoch keinen Abbruch, im Gegenteil. Die Bettdecke wurde an ihm zur Toga, sein Haupt auf den breiten Schultern zur Büste eines antiken Fürsten. Mit einem Mal erschienen Yeremi die von McFarell, Flatstone und Leary verteidigten Hypothesen gar nicht mehr so abwegig. Die Azteken hatten Cortes für Quetzalcoatl gehalten, einen hellhäutigen und bärtigen Gottkönig, dessen Rückkehr sie aufgrund einer alten Prophezeiung erwarteten. Und auch die Inka glaubten, wie von Saraf selbst bezeugt, Pizarro sei einer ihrer wiedergekehrten Götter gewesen. Weshalb nur war ihnen nicht aufgefallen, welchen Schatz sie mit dem Silbernen Volk in ihrer Mitte hatten? Der Grund mochte, wie so oft im Leben, Voreingenommenheit gewesen sein. Man erwartete von himmlischen Wesen Macht und Unbesiegbarkeit. Da wurden Sarafs friedliebende und gefühlsbetonte Vorfahren schlichtweg übersehen. Anders die kriegerischen Konquistadoren, die sich nahtlos in das vorgegebene Schema fügten.
    Mit derselben Blindheit, dessen wurde sich Yeremi zunehmend bewusst, hatte auch sie die alten Legenden lange Zeit belächelt. Obgleich sie sich nach wie vor dagegen sträubte, konnte sie die weit über die normale Menschenkenntnis hinausgehende Kraft des Silbernen Sinnes kaum noch leugnen. Sie beneidete Fürst Roca um sein unerschütterliches Vertrauen in den Knaben Saraf Argyr. Könnte sie sich ihrer Gefühle für den Silbermann und seiner Aufrichtigkeit doch nur genauso sicher sein! Endlich fand sie die Sprache wieder.
    »Etwas verstehe ich nicht, Saraf. Die Geschichte deines Volkes hat mich tief bewegt, aber ich kann darin nichts entdecken, was man mit aller Macht geheim halten müsste.«
    »Mit anderen Worten, du möchtest wissen, warum ich dir das alles nicht schon unter dem Dach des Waldes erzählt habe, als ich in dein Zelt kam.«
    »Offen gestanden, ja.«
    »Dafür gibt es mehrere Gründe. Der unbedeutendste von ihnen ist die Weissagung der Sippenältesten. Du erinnerst dich? Sie prophezeiten, der Knabe Saraf Argyr werde das Silberne Volk eines Tages zu einem neuen Anfang jenseits des Horizonts führen. Den Weg dorthin muss er jedoch allein finden. Jeder Mitwisser kann – willentlich oder sogar in guter Absicht – trügerische Zeichen aufstellen, die am Ende zum Scheitern führen.«
    »Du meinst, wie Fürst Roca den jungen Saraf zum Retter erwählte, obwohl sich dadurch die Hoffnungen seines Volkes wohl nicht erfüllten? Oder…« Sie schluckte. »Oder wie ich den Deinigen das Verderben gebracht habe?«
    »Du trägst keine Schuld am Tod meiner Brüder und Schwestern, Jerry, aber er kam trotzdem mit dir und deinen Begleitern in unsere Höhlen. Deine Arglosigkeit konnte uns nicht schützen.«
    Sie nickte und ließ den Kopf hängen. »Ich kann dein Misstrauen verstehen.«
    »Ich vertraue dir, Jerry, sonst hätte ich

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