Der silberne Sinn
ein Stromstoß durchfahren. Vor ihrem inneren Auge zuckten wie in einem Blitzlichtgewitter einzelne Bilder jenes Morgens auf: Geschwächt vom mysteriösen Trojaner-Bakterium, war sie durch ihr Zelt gestolpert, hatte sich den Kopf angeschlagen, den Slip zum Stillen des Blutes auf die Wunde gepresst und ihn danach vergessen. Wie war er in den Rucksack gekommen? Hatte sie ihn selbst achtlos dort hineingeworfen? Oder vielleicht Wachana? Percey Lytton könnte ihn dazu beauftragt haben, während sie in der Quarantänestation lag.
Durch den überraschenden Fund bekam Yeremi eine zweite Chance: Ihre Suche nach den möglicherweise genmanipulierten Mikroben könnte doch noch erfolgreich enden. Doktor Sibelius hatte gesagt, er brauche für eine exakte Analyse des Stammes eine Probe ihres Blutes mit dem Erreger, wobei es nicht darauf ankäme, ob die Zellen noch lebten.
Nun war es wie aus dem Nichts aufgetaucht, dieses Beweisstück, das Jefferson H. Flatstones Beteiligung an der Ausrottung des Silbernen Volkes untermauern könnte.
Yeremi rannte, das rotbraun befleckte Höschen in der Hand, auf den Flur hinaus, hinunter in das Speisezimmer, wo es nach gebratenen Eiern roch. Carl ließ sich gerade von Isabella einen Kaffee einschenken.
»Rat mal, was ich gefunden habe?«, begrüßte sie ihn und schwenkte den Baumwollslip. Isabella, eine pralle Endvierzigerin mit hoch sensiblem Schamgefühl, kreischte erschrocken auf.
Carl reagierte eher gelassen. »Guten Morgen, Jerry. Hoffe, wohl geruht zu haben. Ja, ich habe auch prächtig geschlafen.« Er zog eine Augenbraue hoch, betrachtete das Wäschestück argwöhnisch und fügte dann seufzend hinzu: »Du wirst nie einen Mann bekommen, wenn du so weitermachst!«
Sie überhörte den Spott und erklärte ihm, was sie da in Händen hielt. Weil sie es inzwischen nicht für ausgeschlossen hielt, von Flatstones Agenten abgehört zu werden, wählte sie bewusst vieldeutige Formulierungen. Carl, der den »Schatz in ihrer Hand« sah, verstand sie dennoch: Endlich konnte man einen genetischen Fingerabdruck von dem Bakterium anfertigen und so vielleicht seine Herkunft enträtseln. Als er die Hand nach dem schnurlosen Telefon ausstreckte, das vor ihm auf dem Tisch lag – vermutlich, um Ed anzurufen –, packte Yeremi ihn am Unterarm. Sie schüttelte den Kopf, ließ die Augen zur Decke kreisen, als suche sie nach versteckten Wanzen, und flüsterte: »Später!«
Nein, mit zärtlichen Gefühlen hatte das nichts zu tun. Zugegeben, Saraf Argyr war ein attraktiver Mann, warmherzig, rücksichtsvoll, einfühlsam, vertrauenswürdig, eben eine beeindruckende Persönlichkeit. Yeremi traute sich durchaus zu, diese Eigenschaften wahrzunehmen, ohne ihnen gleich zu erliegen. Sicher, sie empfand so etwas wie Freundschaft für den Silbermann, aber dafür gab es eine ganz natürliche Erklärung: Hilflosigkeit weckt bei Frauen mütterliche Instinkte. Ja, das musste der Grund für diesen Anflug von Zuneigung sein, den sie seit Jahren zum ersten Mal wieder für einen Mann verspürte. Saraf war eigentlich wie ein Kind in einem zu großen Körper, das sich einer fremden, gefährlichen Welt gegenübersah. Er brauchte ihre Unterstützung, und sie würde ihn nicht im Stich lassen.
Das hatte sie ihm deutlich zu verstehen gegeben, als er in einem Anflug von Besorgnis von »Trennung« und »Alleingang« sprach. Lächerlich! Sie würde ihn nicht auf eigene Faust gegen die Mörder seines Volkes antreten lassen. Das hatte sie ihm ins Gesicht gesagt. Ganz offen. Schon aus eigenem Interesse müsse sie die Linien und Symbole auf ihrem dreiteiligen Diagramm enträtseln. Damit erklärte sie, angesichts der möglichen Bedrohung durch fremde Lauscher, die Diskussion um ihre persönliche Sicherheit für beendet.
Doch in Gedanken nährte sie weiter die Hoffnung, schon bald die Antworten auf jene Fragen zu erhalten, die ihre inneren Stimmen nachdrücklicher denn je stellten: Warum und von wem waren ihre Eltern in Jonestown getötet worden? Aus welchem Grund hatte sie sich das Leben stehlen und mit diesem kläglichen Ersatzdasein abspeisen lassen müssen? In den letzten Tagen war sie zeitweilig entmutigt gewesen. Zu vage erschienen ihr die eigenen Verdächtigungen, zu verwirrend die einzelnen Stücke des riesigen Puzzles, das sie da zusammenzusetzen versuchte. Doch die Entdeckung ihres blutbefleckten Slips hatte ihr neuen Auftrieb gegeben.
Auch Carls Einschätzung der veränderten Lage war ermutigend. Dem Drängen seiner Enkelin
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