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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Yeremi das im Gang herumstehende Publikum. Neben einigen typischen Exemplaren der Gattung Reporter – saloppe Kleidung, tonnenschwere Kameras – entdeckte sie auch zahlreiche Damen vorwiegend mittleren Alters in antiquiert anmutenden, aber vermutlich sündhaft teuren Kostümen. Sie hielten Sektgläser in den Händen und kauten auf Gemüsekanapees herum. »Was sind das für Leute?«, fragte Yeremi.
    »Ich habe etwas von einer Wohltätigkeitsveranstaltung zur Rettung bedrohter Arten gehört«, antwortete Carl.
    »Na, das passt ja«, schnaubte Yeremi und betrat den Saal, dessen Name sie an ihr Strandhaus bei Monterey erinnerte. Augenblicklich brach ein weiteres Blitzlichtgewitter los. Abgesehen von jenem Morgen nach Sarafs Fernsehauftritt, als ihr die Pressemeute vor dem Strandhaus aufgelauert hatte, war sie seit der Rückkehr aus Guyana nicht mehr vor die Medien getreten. Die von Sandra verbreitete Einladung zur Pressekonferenz kündigte »sensationelle Parallelen zwischen dem Aussterben des Silbernen Volkes und dem Jonestown-Massaker von 1978« an. Offenbar hatte dieser reißerische Aufmacher seine Wirkung nicht verfehlt.
    Der Monterey-Saal war ungefähr neun Meter lang und über sechs Meter breit. An zwei Seiten befanden sich Fenster, die jedoch verdunkelt waren. Teppiche, Vorhänge, die Stuckelemente an der etwa drei Meter hohen Decke, ja das ganze plüschige Ambiente passte zu dem mehr als einhundertdreißig Jahre alten Hotel. Der Raum war bis auf den letzten Platz gefüllt. An der Wand standen hinter der von Sandra Schroeder bestellten Webcam vier oder fünf Videokameras von lokalen und überregionalen Fernsehgesellschaften.
    Sandra eilte Yeremi entgegen. »Wie geht’s dir?«
    »Leary hat draußen Schlägertypen postiert, die sich Saraf schnappen wollen.«
    »Sollen wir abbrechen?«
    Yeremi ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und schüttelte den Kopf. »Nein, wir müssen die Sache durchziehen. Der ganze Saal ist voll von Journalisten. Du hast glänzende Arbeit geleistet.«
    »Es sind eine ganze Reihe landesweit berichtender Medien vertreten und außerdem mehrere Nachrichtenagenturen. Ken Frielander hat übrigens sein Versprechen gehalten: Sein hiesiger Kollege von der Los Angeles Times ist auch da.«
    »Die Chance kriegen wir kein zweites Mal. Sobald die Pressekonferenz angefangen hat, schleichst du dich raus und warnst Saraf. Irgendwie muss es euch gelingen, an Flatstones Leibgarde vorbeizukommen.«
    »Wir werden uns was einfallen lassen. Gib das verabredete Zeichen, wenn du so weit bist.«
    Sandra zeigte Yeremi noch einmal das Präsentationsequipment, das im Wesentlichen aus einem Notebook-Computer und einem Projektor bestand, der die vorzuführenden Bilder an eine Leinwand warf. Anschließend hängte sie ihr ein drahtloses Mikrofon um, drückte ihr eine Fernbedienung in die Hand und wünschte ihr viel Glück. Yeremi schaltete eine kleine Leselampe an, um ihre Notizen in dem Dämmerlicht – Sandra reduzierte gerade die Raumbeleuchtung – besser lesen zu können. Zuletzt legte sie ihr Handy neben den Projektor. Im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Arbeit hatte Yeremi schon viele Pressekonferenzen abgehalten, aber noch nie war sie so aufgeregt gewesen wie jetzt. Sie räusperte sich. Aus den Lautsprechern drang ein schriller Pfeifton, aber der Techniker des Hotels hatte die Rückkopplung schnell im Griff.
    »Zunächst«, begann Yeremi ihren Vortrag, »möchte ich Ihnen allen für Ihr Kommen danken. Sie haben meine Einladung erst gestern erhalten und sind trotzdem so zahlreich erschienen. Nun wird’s also doch nichts aus dem Selbstgespräch, auf das ich mich, ehrlich gesagt, schon so gefreut hatte.«
    Einige Journalisten lachten leise, aber die Heiterkeit sollte schnell verfliegen.
    Yeremi drückte eine Taste ihrer Fernbedienung. Der Beamer warf das erste Bild an die Wand. Es zeigte eine Luftaufnahme von der großen Versammlungshalle in Jonestown. An dem Gebäude führte eine braune Sandpiste mit tiefen Fahrrinnen vorbei. Ringsherum lagen Hunderte von Leichen.
    »Am 18. November 1978 starben mindestens neunhundertdreizehn Mitglieder einer religiösen Gruppe im Dschungel von Guyana.
    Mit wenigen Ausnahmen waren sie Bürger der Vereinigten Staaten. Ihr geistiger Führer, Reverend James Warren Jones – Ihnen ist er vermutlich besser als Jim Jones bekannt –, nannte seine Kirche Volkstempel. Amerikanischen Regierungsberichten zufolge haben die meisten der in jener berüchtigten Weißen Nacht Verstorbenen

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