Der silberne Sinn
hatte. Die lautlosen Geschosse der Armbrüste konnte er nicht vernehmen.
Comptes Wahrnehmungen decken sich mit einer weiteren Merkwürdigkeit, die bisher kaum Beachtung fand. Ich rede von der seltsamen Verdoppelung der Leichenzahl innerhalb von fünf Tagen. Ja, Sie hören richtig. Anfangs war nur von vierhundert Toten die Rede. Doch plötzlich waren neunhundert da. Hatte man fünfhundert Körper schlichtweg übersehen? Lag, wie teilweise behauptet wurde, über die Hälfte der Leichen unter den zuerst gezählten Toten? Oder war die Operation ›Jonestown‹ bei der ersten Zählung noch nicht abgeschlossen, weil sich viele Geflohene im Dschungel befanden, erst eingefangen und der Gesamtzahl der Opfer ›hinzugefügt‹ werden mussten? Abgesehen von einem kurzen Besuch unter strenger Aufsicht des Militärs durfte die Presse erst eine Woche nach der Weißen Nacht den Schauplatz des Geschehens in Augenschein nehmen. Was war in der Zwischenzeit geschehen?
Zwei weitere, voneinander unabhängige Quellen bestätigen meine persönlichen Beobachtungen. Ihnen zufolge haben sich bereits innerhalb von fünf bis sechs Stunden nach dem Jonestown-Massaker Truppen der US-Spezialeinheit Green Berets in Jonestown befunden. Quelle Nummer eins ist Charles Huff von den U. S. Army Special Forces in Panama. Der Name des zweiten Zeugen lautet Stanley Clayton. Er muss die Dschungelsiedlung noch nach mir verlassen haben. Gemäß seiner Aussage vor dem Untersuchungsrichter haben zu dieser Zeit, abgesehen von den bereits Geflohenen, mindestens noch einhundert bis zweihundert Personen gelebt. Nach etwa fünfundvierzig Minuten vollständiger Stille habe er plötzlich ›einen Chor aus Schreien und Schüssen‹ vernommen. Warum dieser plötzliche Ausbruch von Angst? Weil man sich ›Rettern‹ gegenübersah, die sich plötzlich in Mörder verwandelten? Beurteilen Sie die Fakten bitte selbst.
Am 18. November hoben gegen sechs Uhr abends – die Weiße Nacht war in vollem Gange – mehrere S-141-Armeetransporter von den Militärbasen in Panama und Dover (Delaware) mit Ziel Guyana ab. Legt man die Reisegeschwindigkeit dieser Flugzeuge zu Grunde, könnten die Ersten von ihnen etwa drei Stunden und vierzig Minuten später in Jonestown eingetroffen sein. Ohne die örtlichen Behörden zu informieren, brachen dorthin auch um etwa acht Uhr von Venezuela aus Militärhubschrauber der US-Streitkräfte auf – die Flugzeit beträgt etwa eine Stunde und zehn Minuten. Flugzeuge und Helikopter müssen somit ungefähr zur gleichen Zeit das Operationsgebiet erreicht haben. Erst anderthalb Tage später, am Montag, dem 20. November, gelangten offizielle Truppen des guyanischen Militärs nach Jonestown, in ihrer Begleitung einige Überlebende des Volkstempels zur Identifizierung von Leichen. Diese Stippvisite am Ort des Grauens dauerte nur wenige Stunden und fand unter strenger Kontrolle des Militärs statt. Warum? War die Bühne für die Weltöffentlichkeit noch nicht angemessen dekoriert?
Und noch eine Besonderheit: Der Tod in Jonestown wurde erstmalig über eine CIA-Funkverbindung am Sonntagmorgen, also dem 19. November, um drei Uhr neunundzwanzig bestätigt. Hatte der stellvertretende Missionschef der US-Botschaft in Georgetown, Richard Dwyer, diesen Ruf abgesetzt, oder waren es die Green Berets, die sich bereits in Jonestown befanden? Nach Angaben des Außenministeriums traf zur Versorgung der Verwundeten die MEDEVAC C-141, ein medizinisches Spezialflugzeug, von Charleston, South Carolina, kommend, erst um sieben Uhr fünfundfünfzig in Georgetown ein. Das Logbuch des State Department erwähnt nichts von den Green Berets, die sich bereits seit Mitternacht in Jonestown befanden – nicht um die Verletzten in Port Kaituma zu betreuen, sondern offenbar aus anderen Gründen. Aber aus welchen?
Obwohl also bereits um drei Uhr neunundzwanzig der Tod in Jonestown bestätigt worden war, wurde dem medizinischen Hilfsflug der C-141 davon nichts mitgeteilt. Man kümmerte sich um wenige Verletzte, untersuchte aber nicht die über neunhundert als tot gemeldeten Menschen, bis bei den Leichen am Montag bereits die Verwesung eingesetzt hatte. Im Freedom Magazine gab U. S. Air Force Colonel L. Fletcher Prouty zu, dass die Vereinigten Stabschefs bereits Stunden nach dem Vorfall anordneten, Hunderte von Leichensäcken nach Georgetown zu fliegen. Wie konnten sie das tun, ohne zu wissen, was im Dschungel geschehen war? Es gibt nur eine plausible Erklärung dafür: Für das
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