Der silberne Sinn
›revolutionären Selbstmord‹ begangen, indem sie aromatisiertes, mit Zyanid vergiftetes Wasser tranken. Eine der wenigen Überlebenden jenes tragischen Ereignisses war ein kleines Mädchen, das man, so die Berichterstattung von damals, mit ›durchgeschnittener Kehle‹ aufgefunden hatte. Nun, ich darf Ihnen versichern, der Hals dieses Mädchens war nur angeritzt, denn sonst könnte es hier und heute nicht vor Ihnen stehen und Ihnen die wahre Geschichte des Jonestown-Massakers erzählen.«
Yeremi wollte das Interesse der sensationsverwöhnten Medienvertreter von Anfang an gewinnen, und das war ihr mit dem großen Paukenschlag gelungen. Sie hob das Kinn, deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Halsnarbe, und ein neuerliches Blitzlichtgewitter zog über sie hinweg. Zahlreiche Stimmen hallten durch den Raum. Mithilfe des Mikrofons verschaffte sich Yeremi schnell wieder Gehör und versprach, alle Fragen im Anschluss an die Präsentation zu beantworten.
Dann fuhr sie fort: »Das Jonestown-Massaker löste eine wahre Flut von Berichten in den Medien aus, Bücher wurden darüber geschrieben, auch im Internet finden sich zahlreiche Quellen zu diesem Thema. ›Aber erschoss Jim Jones?‹, lautet eine häufig gestellte Frage. Der Reverend hatte seinen Todestrunk verschmäht. Angeblich sollte er mit einem Boot aus Guyana herausgeschafft werden. Von einem Phantom ist da die Rede, einem der engsten Vertrauten des Reverend, der die Weiße Nacht überlebt haben soll, aber bis heute nicht wieder aufgetaucht ist. Setzte dieser Unbekannte seinem geistigen Vater die Pistole an den Kopf? Möglicherweise stehen wir kurz davor, die wahre Identität dieses Mannes zu ergründen.«
Einige Journalisten murmelten aufgeregt miteinander.
Mit einem lauten »Zunächst« verschaffte sich Yeremi wieder die Aufmerksamkeit aller. »Zunächst möchte ich – so schmerzvoll es für mich persönlich auch ist – jenen schrecklichen Tag für Sie noch einmal Revue passieren lassen. Durch ihn haben viele Mitmenschen ihre Toleranz gegenüber Andersdenkenden verloren. Eine an mittelalterliche Hexenverbrennungen erinnernde Sektenhysterie war die Folge des so genannten Jonestown-Massakers – weltanschauliche Gruppierungen, die sich jenseits der Großkirchen bewegten, wurden gebrandmarkt. Aber viel zu selten wagte jemand kritisch zu hinterfragen, was wirklich zu der Tragödie führte.
Als unmittelbar Betroffene kann ich solche aus Unkenntnis und Angst geborenen Gefühle bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen, habe ich mich doch selbst lange Zeit hinter Pauschalurteilen verschanzt. Heute weiß ich, dass dies ein Fehler war. Mit Vorurteilen können wir uns nicht wirklich schützen, sondern werden nur manipulierbarer. Zu dieser Einsicht bin auch ich nicht aus eigenem Antrieb gekommen. Die Erforschung der Hintergründe von Jonestown ist mir gewissermaßen aufgezwungen worden. Und dabei musste ich feststellen: Es ist nicht vorbei. Als kürzlich die Ausrottung des Silbernen Volkes durch eine mysteriöse Seuche Schlagzeilen machte, ahnten Sie und Ihre Kollegen noch nichts von dem Zusammenhang: Zweimal wurde der Dschungel von Guyana zum Schauplatz eines Massensterbens, und jedes Mal steckte dieselbe Gruppe dahinter.«
Ein Raunen ging durch den Saal.
Yeremi fasste nun wie angekündigt die Ereignisse des 18. November 1978 zusammen. Dabei stützte sie sich auf alte und neue Notizen, den jüngsten Ermittlungsbericht von Ed Edmundson, die erst vor Stunden von Ken Frielander zugespielten Informationen sowie auf ihre eigenen, immer klarer werdenden Erinnerungen. Sie berichtete von dem Versteck unter den Wurzeln des Baumes, in dem sie Zuflucht gesucht hatte, von den Helikoptern, die plötzlich aufgetaucht waren, und von dem furchtbaren Abschlachten jener, die nicht von dem Gift getrunken hatten. Dazu zeigte sie die von Sandra vorbereiteten Bilder aus Jonestown, Fotografien von Dokumenten und immer wieder Übersichten mit den erläuterten Fakten. Dann zog sie eine erste Zwischenbilanz.
»Wie glaubhaft ist dieser Bericht? Habe ich, damals ein verängstigtes Kind, mir das alles nur eingebildet? Bin ich nur eine Wissenschaftlerin, die Publicity für ihre Forschungsarbeit sucht? Oder gibt es andere Quellen, die meine Darstellungen belegen? Hören Sie selbst.
Alan Compte, einer der beiden Rechtsanwälte von Jim Jones, wurde später in Zeitungsartikeln zitiert. Auch er will mindestens achtzig bis neunzig Schüsse gehört haben, nachdem er sich in den Busch geflüchtet
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