Der silberne Sinn
»Gleichwohl bin ich mir der Stichhaltigkeit Ihrer Einwände bewusst, und ich gehe dieses Risiko ein, weil ich keinen anderen Ausweg sehe. Gestern in den frühen Morgenstunden wurde die verkohlte Leiche des Mikrobiologen Cedric Youngberg aus dem benachbarten San Jose tot aufgefunden. Das von ihm geleitete Labor wurde von Flammen völlig zerstört. Mr Youngberg hatte die von mir bereits erwähnte Probe meines Blutes analysiert, in der das genmanipulierte Bakterium nachgewiesen worden war, das aus einem Labor von Stheno Industries stammt. Der gleiche Erreger dürfte das Silberne Volk getötet haben. Geben Sie mir noch etwas Zeit, und ich werde Ihnen eine zweite Analyse vorlegen können, die meine Behauptung bestätigt… Bitte, meine Damen und Herren, bewahren Sie doch noch einen Augenblick Geduld.«
Im Saal drohte ein Tumult auszubrechen. Einige der Journalisten hielten Yeremis Vorstellung für einen geschickt inszenierten PR-Gag, andere waren nachdenklich geworden, und eine dritte Gruppe brachte bereits ihre Empörung über das menschenverachtende Vorgehen amerikanischer Behörden zum Ausdruck. Yeremi drückte eine Kurzwahltaste auf ihrem Handy – das verabredete Zeichen. Entweder Saraf betrat innerhalb der nächsten Sekunden den Saal, oder ihre Dramaturgie würde wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen.
»Nun…«, rief sie und hielt kurz inne. Erst als etwas mehr Ruhe im Raum eingekehrt war, setzte sie ihre Ausführungen fort: »Nun möchte ich Ihnen zeigen, warum die Organisation, mit der wir es hier zu tun haben, selbst vor Massenmord nicht zurückschreckt. Es geht um den Besitz einer Waffe, die alles in den Schatten stellt, was Sie sich vorstellen können. Dieses vielleicht schärfste aller Schwerter ist der Silberne Sinn.«
Ratlosigkeit verschaffte sich Gehör.
»In der Sprache der modernen Wissenschaft«, fuhr Yeremi unbeirrt fort, »bezeichnen wir diese Fähigkeit als empathische Telepathie.« Wo bleibt Saraf? Um die Journalisten hinzuhalten, dozierte Yeremi über die Natur der Empathie, sprach über den kollektiven Fühlsinn des Silbernen Volkes und wurde dabei immer nervöser. Je länger die Tür zum Saal geschlossen blieb, desto häufiger verhaspelte sie sich. Unmut regte sich im Raum.
»Aufhören!«, rief jemand.
»Wir lassen uns nicht instrumentalisieren«, wiederholte der Stoppelhaarige aus der zweiten Reihe.
»Was wollen Sie uns denn nun eigentlich vorführen?«, fragte eine Reporterin in gemäßigterem Ton.
In diesem Moment flog die Tür auf, und Laute bitterlichen Weinens drangen in den Saal. Dutzende von Köpfen flogen herum. Sprachlos wie alle anderen ließ Yeremi den grotesken Anblick auf sich wirken.
In dem von der Flurbeleuchtung erhellten Türausschnitt stand eine hoch gewachsene Gestalt. Sie war flankiert von zwei fast ebenso großen Männern mit militärisch kurzem Haarschnitt. Es handelte sich um Flatstones Leibwächter. Die Männer – der ältere war höchstens fünfunddreißig – schienen Saraf zu stützen, als wäre er ein Trauernder, dessen Zusammenbruch es zu verhindern gelte. Seltsam war nur, wie gefasst er im Vergleich zu seinen tränenüberströmten Helfern wirkte.
Die Leibwächter führten Saraf in den Raum. Wenn sich alles Mitleid der Welt über das tragische Schicksal des Silbernen Volkes in zwei Menschen abfüllen ließe, dann wären diese beiden Elitekämpfer fraglos die geeignetsten Gefäße dafür gewesen. Gleich orientalischen Klagefrauen geleiteten sie unter lautem Jammern und Zetern, mit verweinten Gesichtern, ihren Schützling zur Referentin. Derweil drehte jemand das Licht heller.
Yeremi begriff als Erste, was da vor sich ging. Saraf spielte auf den Gefühlen der Leibwächter wie auf einer Harfe ein unendlich trauriges Lied. Die zweifellos hartgesottenen Männer waren vor lauter Mitleid unfähig, sich ihrer Zielperson zu bemächtigen. Das Bedürfnis, Trost zu spenden, stand im Mittelpunkt all ihres Denkens.
»Diese zart fühlenden Männer sind Bodyguards von Jefferson H. Flatstone, dem Chef von Stheno Industries«, sprach Yeremi laut ins Mikrofon und deutete auf die Dreiergruppe. Es gelang ihr nur schwer, das Geheule zu übertönen. »Und der Mann in der Mitte ist Saraf Argyr. Er ist der Bote der Weißen Götter, der letzte Überlebende des Silbernen Volkes…«
Das vorangegangene Wetterleuchten der Fotoapparate war nichts gegen das nun losbrechende Gewitter aus Blitzlichtern und Stimmen. Wie die Masten im Sturm kämpfender Schiffe tauchten immer wieder
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