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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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tumultuösen Durcheinander nur nicht auszumachen. Aber als sie sich – neben vielen anderen Schaulustigen – dem Ort des Kampfes näherte, wurde die unglaubliche Wahrheit offenbar: Saraf befand sich weder im Fahrstuhl, noch war er in der Hotelhalle zu sehen. Er hatte sich schlichtweg in Luft aufgelöst.
    »Was für ein hübsches Bild! Wo ist Saraf?«, meldete sich neben Yeremi die keuchende Sandra zu Wort. Yeremi blickte ihre Freundin an, sah, wie sich Carl herbeischleppte.
    »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Er ist einfach weg.«
    »Hilfe, Polizei!«, kreischte derweil eine dralle Tierfreundin im Fahrstuhl und drosch der Ordnungshüterin ihre Polyestertasche ins Gesicht.
    »Nimm deine Dreckshände weg!«, schrie eine andere und malträtierte Leary mit einer Plastiktüte ungeklärten Inhalts.
    »Lustmolch!«, schimpfte die Dritte und verpasste dem bleichen Cop einen Tritt gegen das Schienbein.
    Yeremi wandte sich ab und lief zum Ausgang. Auf den Stufen vor dem Gebäude erwischte sie einen Hotelpagen. Sie packte den auffallend apathisch wirkenden Mann an seinem Mantel und schüttelte ihn.
    »Haben Sie eben einen sehr großen Mann hinausgehen sehen? Blonde Haare, Vollbart. Trägt Segelschuhe, khakifarbene Baumwollhose und ein blaues Sportsakko.«
    Der Page erwiderte ihren flehenden Blick mit glasigen Augen, die auf ein elysisches Etwas in weiter Ferne gerichtet schienen. Da wusste Yeremi: Er hatte ihn gesehen.

 
     
     
     
    VIERTER TEIL
     
     
     
    DAS
    GEDÄCHTNIS
    DES SILBERNEN
    VOLKES

 
    DIE DEMONTIERTE HELDIN
     
     
     
    San Francisco (Kalifornien, USA)
    2. Januar 2006
    19.48 Uhr
     
     
    Yeremi saß auf einem riesigen Kingsize-Bett – vor sich eine Kleenex-Schachtel, um sich herum unzählige bereits mit Tränen und Rotz getränkte, zusammengeknüllte Tücher – und zelebrierte ihr Elend. Immer wieder ging ihr die abstruse Szene durch den Kopf, der kurze Moment der Unaufmerksamkeit vor dem Fahrstuhl, das Gezeter der vier um ihre Unschuld bangenden Damen, der leere Blick des Hoteldieners. Lebe wohl! Saraf hatte angedeutet, was er plante, aber sie war taub und blind gewesen, hatte ihn nicht verstanden.
    Jetzt weinte sie in einem der fünfhundert Zimmer des Hotels und gab sich der vagen Hoffnung hin, Saraf könne an diesen Ort zurückkehren. Zu ihr. Al Learys ihr zum Abschied ins Ohr gezischte Drohung hatte sie nicht davon abhalten können, Carls Angebot auszuschlagen – sie wollte sich nicht in der Fischerhütte bei Morgan Hill verstecken, denn Saraf war hier, in San Francisco, irgendwo. Gleich morgen würde sie noch einmal hinausgehen und die Straßen und Parks nach ihm absuchen, um ihn vielleicht doch noch zu finden. Bevor die Polizei es tat.
    Es klopfte an der Tür.
    Yeremi reagierte nicht sofort darauf. Der Laut musste sich ihr Bewusstsein erst erobern.
    »Ja?«, schniefte sie.
    »Professor Bellman.« Eine weibliche Stimme. Selbstbewusst. Dennoch freundlich. Irgendwie kam sie Yeremi bekannt vor.
    »Wer ist da?«
    »Ich muss Sie dringend sprechen. Es geht um Ihre Pressekonferenz heute Mittag.«
    Yeremi, inzwischen im hoteleigenen Frotteemorgenmantel und eigentlich nicht mehr auf Besuch eingestellt, zögerte. Dann erhob sie sich aber doch und schlurfte zur Tür. Sie blickte durch den Spion – und wäre vor Überraschung fast umgefallen. Verstört öffnete sie die Tür.
    Vor ihr stand eine mittelgroße Frau von fünfundfünfzig Jahren – Yeremi kannte ihr Alter genau –, die aber wesentlich jünger aussah. Ihre Figur war immer noch bewundernswert, die brünetten Haare vermutlich gefärbt. Über die Natürlichkeit ihrer glatten Gesichtshaut mochte man spekulieren. Jedenfalls sah Jackie Tailor immer noch sehr attraktiv aus.
    Yeremi wollte gerade erstaunt den Namen der Senatorin aussprechen, als diese ihre Hand auf die Lippen legte und ein unmissverständliches Geräusch von sich gab.
    »Schsch!«
    Wusste Tailor von den Wanzen, die Yeremi, vermutlich schon seit Wochen, belauscht hatten? Oder besaß sie nur ein berufsbedingtes Misstrauen? Die Senatorin lockte Yeremi mit einem sich rhythmisch krümmenden Zeigefinger auf den Gang hinaus. Ein japanisches Paar mittleren Alters schloss gerade die Tür zum Nachbarzimmer auf und nickte den beiden Frauen freundlich zu. Als sie verschwunden waren, flüsterte die unverhoffte Besucherin Yeremi ins Ohr: »Ich habe auf der anderen Seite des Flurs ein Zimmer gemietet. Kommen Sie, Professor Bellman. Ich muss mit Ihnen sprechen.«
    Wie benommen schloss Yeremi die

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