Der silberne Sinn
entfernt, saßen sie sich auf zwei großen Felsen gegenüber, und er glotzte sie unentwegt an. Das Funkeln in seinen graublauen Augen ließ sie unwillkürlich an eine Raubkatze denken, die endlich frei war und wieder jagen durfte. In den letzten Wochen hatte er sich oft verstellen, den umgänglichen Kollegen spielen müssen, aber damit war nun Schluss. »Sollte Jerry versuchen zu fliehen, wissen Sie, was Sie zu tun haben«, hatte Flatstone gesagt. Damit hatte er die Bestie in Al Leary geweckt.
Und doch unterschied sich dieser Moment von jenem, der nur noch ein dunkles Kapitel in Yeremis Erinnerung war. Sie selbst hatte sich verändert. Das war nicht zuletzt Sarafs Verdienst. Hinzu kam ihre eigene Entschlossenheit, die Geister der Vergangenheit zu besiegen.
»Was starrst du mich so an?«, fragte sie ihn mit erhobenem Haupt.
Er grinste. »Ist es verboten, eine attraktive Frau anzusehen?«
»Es kommt darauf an, was hinter diesen Blicken steckt. Du fühlst dich im Moment stark, weil du die Kanone hast.«
»Ich bekomme auch so, was ich will.«
Hinter der Antwort steckte mehr als sinnliches Verlangen, wie Yeremi deutlich spüren konnte. Sie beschloss, Learys Lustgefühle ein wenig abzukühlen, indem sie an seinen Geltungsdrang appellierte. »Flatstone hält große Stücke auf dich, habe ich Recht?«
Unmerklich, aber für Yeremi dennoch erkennbar, schwellte die Brust des Psychologen. »Durch mich ist sein Plan erst in greifbare Nähe gerückt.«
»Wieso sein Plan? Ist Professor McFarell nicht Flatstones Mentor?«
»Das schon, aber wir haben die ursprüngliche Idee zu einer ultimativen Waffe ausgebaut.«
»Das glaube ich nicht.«
»Es ist aber so. Uns fehlt nur noch eine winzige Ingredienz.«
»Du übertreibst. Ich sehe ja ein, dass ein empathischer Telepath eine wichtige Person – sagen wir, einen Präsidenten – manipulieren und damit Ereignisse von großer Tragweite auslösen kann, aber eine ›ultimative Waffe‹…?« Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Das klingt für mich eher nach Größenwahn. Du warst schon immer…«
»Pass auf, was du sagst!«, zischte Leary. Halb war er von seinem Stein aufgesprungen und fuchtelte dabei mit dem Revolver herum. Yeremi lehnte sich demonstrativ auf ihrem Felsen zurück und schwieg. Sie bemühte sich, mäßigende Töne auf seinem Gefühlsklavier anzuschlagen, ohne recht zu wissen, wie. Doch es schien zu glücken. Er atmete langsam aus, sank wieder auf seinen Felsen zurück und fügte beschwörend hinzu: »Du ahnst ja nicht, welche Gewalt in einem Schneeball stecken kann.«
Einen Moment lang stutzte Yeremi. Wie hatte er das gemeint? Dann glaubte sie zu ahnen, worauf Leary angespielt hatte. Der Schneeballeffekt konnte aus ein paar verklumpten Flocken eine Lawine zaubern, die ganze Städte unter sich begrub… Yeremi riss die Augen auf. Ja, das war die Lösung! »Ihr wollt die Menschen irgendwie anstecken, mit einer Idee, vielleicht einem Hassgefühl. Wie eine Epidemie soll es sich ausbreiten, bis ihr euer Ziel erreicht habt. Ist das euer Plan?«
Leary grinste. »Wir sprechen gerade über das bestgehütete Geheimnis von Stheno Industries. Du erwartest doch nicht allen Ernstes von mir, meinen Boss zu verraten.«
Das hast du Narr doch schon längst getan!, schrien Yeremis Gedanken. Sie durchlebte ein Wechselbad der Gefühle. Der Triumph über die Lösung des letzten Rätsels reichte dem Entsetzen die Hand, das allein der Gedanke an die Folgen eines solchen Missbrauchs der Empathie in ihr auslöste. »Der Krieg mit Russland – Flatstone hat ihn ja bereits zugegeben –, er ist gar kein Erstschlag der Vereinigten Staaten gegen einen geschwächten Gegner, nicht wahr? Ihr wollt einen Bürgerkrieg auslösen. Nichts eignet sich besser dazu als außer Kontrolle geratene Gefühle. Ihr infiziert eine kleine Gruppe, und die Emotionen schwappen von einem zum anderen über. Am Ende zerfleischen sich Russen und Russen, so wie damals, als sich die Menschen im Kosovo gegenseitig abgeschlachtet haben. Wenn das Gemetzel nur blutig genug ist, wird die UN sogar ein Mandat erteilen, um in Russland für Recht und Ordnung zu sorgen…«
»Und das ist – angesichts der Größe des zu befriedenden Gebietes – die Stunde der amerikanischen Rüstungsindustrie.« Leary freute sich über die Kombinationsgabe seiner Exfreundin.
Yeremi schüttelte den Kopf. »Nein, das ist pervers.«
Leary lachte. »Sieh dir doch an, was aus dem russischen Bären geworden ist. Sein Fell ist voller
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