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Der Simulant

Der Simulant

Titel: Der Simulant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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einige der Reproduktionskliniken angerufen habe, die im Tagebuch seiner Mutter aufgelistet sind … «, sagt die Stimme.
    Paige Marshall.
    Ich spule zurück.
    »Hallo, hier spricht Dr. Marshall«, sagt sie. »Ich muss Victor Mancini sprechen. Bitte sagen Sie Mr. Mancini, dass ich einige der Reproduktionskliniken angerufen habe, die im Tagebuch seiner Mutter aufgelistet sind, und die scheinen alle korrekt zu sein. Auch die Ärzte gibt es wirklich.« Sie sagt: »Höchst seltsam ist es aber, dass die Leute dort alle sehr nervös werden, wenn ich sie nach Ida Mancini frage.«
    Sie sagt: »Sieht aus, als w a r die Sache mehr als bloß ein Hirngespinst von Mrs. Mancini.«
    Eine Stimme im Hintergrund sagt: »Paige?«
    Eine Männerstimme.
    »Also gut«, sagt sie. »Mein Mann ist hier. Jedenfalls möchte Mr. Mancini mich bitte so bald wie möglich im St. Anthony ’ s aufsuchen.«
    Die Männerstimme sagt: »Paige? Was machst du da? Warum flüsterst du … «
    Und dann ist die Leitung tot.

36
    Also besuche ich am Samstag meine Mutter.
    In der Eingangshalle des St. Anthony ’ s rede ich mit der Empfangsschwester. Ich sage, ich bin Victor Ma n cini, ich will zu meiner Mutter, Ida Mancini.
    Ich sage: »Es sei denn, na ja, sie ist tot.«
    Die Empfangsschwester bedenkt mich mit einem Blick – diesem Blick, bei dem man das Kinn senkt und den anderen ansieht, als ob man furchtbares Mitleid mit ihm hätte. Man neigt das Gesicht, sodass man zu dem anderen aufsieht. Mit unterwürfigen Augen. Während man so aufblickt, zieht man die Augenbrauen bis zum Haaransatz hoch. Es ist der Blick des grenzenlosen Mitleids. Dann zieht man noch die Mundwinkel nach unten, und fertig. Genauso sieht die Empfangsschwe s ter mich an.
    Und sie sagt: »Natürlich ist Ihre Mutter noch bei uns.«
    Und ich sage: »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber irgendwie wär ’ s mir andersrum lieber.«
    Ihr Gesicht vergisst für einen Augenblick das Mitleid, das sie für mich empfindet, und plötzlich zeigt sie die Zähne. Wenn man eine Frau dazu bringen will, dass sie einem nicht mehr in die Augen sieht, reicht es meistens, sich mit der Zunge über die Lippen zu fa h ren. Wenn sie dann nicht wegsehen – Volltreffer.
    Gehen Sie nur, sagt sie. Mrs. Mancini ist noch auf der ersten Etage.
    Miss Mancini, sage ich. Meine Mutter ist nicht verheir a tet, es sei denn, Sie wollen mir so was Grusliges wie den Ödipuskomplex anhängen.
    Ich frage sie, ob Paige Marshall im Haus ist.
    »Selbstverständlich«, sagt die Empfangsschwester. Sie hat das Gesicht jetzt etwas von mir abgewendet und sieht mich aus den Augenwinkeln an. Der argwöhn i sche Blick.
    Hinter den Sicherheitstüren setzen all die verrückten alten Irmas und Lavernes, die Violets und Olives ihre Gehwägelchen und Rollstühle in Bewegung und ko m men langsam auf mich zu. Alle diese chronischen Au s zieher. Alle diese ausgesetzten Omas und die Eic h hörnchen mit den Taschen voller zerkautem Essen, diese Frauen, die nicht mehr schlucken können.
    Sie alle lächeln mich an. Sie strahlen. Sie alle tragen diese Plastikarmbänder, die ihnen alle Türen ve r schließen, und doch sehen sie besser aus, als ich mich fühle.
    Im Tagesraum der Geruch von Rosen, Zitronen und Kiefern. Die laute kleine Welt, die aus dem Fernse h kasten um Aufmerksamkeit bettelt. Die herumliege n den Puzzleteile. Noch hat niemand meine Mutter in die dritte Etage verlegt, den Todestrakt, und in ihrem Zimmer sitzt Paige Marshall in einem karierten Les e sessel; sie hat ihre Brille auf und schaut auf ihr Klemmbrett, und als sie mich bemerkt, sagt sie: »Also wirklich.« Sie sagt: »Deine Mutter ist nicht die Einzige, die einen Magenschlauch nötig hätte.«
    Ich sage, ich habe ihre Nachricht erhalten.
    Meine Mutter ist da. Im Bett. Sie schläft, sonst nichts. Ihr Bauch ist ein aufgeblähter kleiner Hügel unter der Decke. In Armen und Beinen sind nur noch die Kn o chen übrig. Der Kopf ist im Kissen versunken, die A u gen sind fest geschlossen. Der Unterkiefer schwillt an, weil sie die Zähne aufeinander presst und das ganze Gesicht zusammenzieht, um zu schlucken.
    Die Augen klappen auf, sie streckt mir ihre grau-grünen Finger entgegen: eine unheimliche Bewegung, wie unter Wasser, ein Schwimmzug in Zeitlupe, zi t ternd wie Licht am Grund eines Swimmingpools, wenn man als kleiner Junge in irgendeinem Motel am Highway übernachtet. Das Plastikarmband an ihrem Han d gelenk wirkt riesig. Sie sagt: »Fred.«
    Wieder schluckt sie, das ganze

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