Der Simulant
Etikett und eine Erklärung und eine Analyse brauchen. Sogar für Dinge, die absolut unerklärlich sind. Sogar für Gott.
»Entschärfen« ist nicht das richtige Wort, aber das erste, das mir dazu einfällt.
Das ist keine Kirche, sage ich. Ich werfe mir das Hal s tuch über die Schulter und ziehe mir das Hemd aus der Hose.
Und Ursula sagt: »Die im Fernsehen halten es aber für eine Kirche.«
Ich drücke mir mit den Fingerspitzen einer Hand um den Nabel herum, den Umbilicus, aber digitale Palpat i on bringt keine eindeutigen Resultate. Ich klopfe und horche auf Veränderungen im Ton, die auf eine ko m pakte Masse hindeuten könnten, aber Perkussion bringt ebenfalls keine eindeutigen Resultate.
Der große Schließmuskel, der die Scheiße im Darm hält, heißt bei den Ärzten Sphinkter. Wenn man sich da was reingeschoben hat, kommt es von allein nicht mehr raus, da braucht man schon richtig Hilfe. In den Notaufnahmen der Krankenhäuser nennt man diese Hilfe kolorektale Fremdkörperentfernung.
Ich bitte Ursula, mal ein Ohr auf meinen nackten Bauch zu legen und mir zu sagen, ob sie da was hört.
»Denny war ja schon immer komisch«, sagt sie und drückt mir ihr warmes Ohr auf den Nabel. Umbilicus, wie die Ärzte das nennen.
Der typische Patient, der sich mit kolorektalen Frem d körpern im Krankenhaus meldet, ist männlich und zw i schen vierzig und fünfzig Jahren alt. Der Fremdkörper ist praktisch immer selbst beigebracht, wie die Ärzte das nennen.
Und Ursula sagt: »Worauf soll ich achten?«
Auf Darmgeräusche.
»Gurgeln, Quietschen, Rumpeln, so was in der Art«, sage ich. Irgendeinen Hinweis darauf, dass ich eines Tages wieder Stuhlgang haben könnte, dass der Stuhl sich nicht bloß immer weiter hinter irgendeinem Hi n dernis aufstaut.
Als klinisches Phänomen hat der kolorektale Frem d körper von Jahr zu Jahr enorme Steigerungsraten. Es wird von Fremdkörpern berichtet, die jahrelang an Ort und Stelle verblieben, ohne die Darmwand zu verle t zen oder sonst irgendwelche schwer wiegenden Ko m plikationen herbeizuführen. Auch wenn Ursula etwas hören sollte, wäre damit nichts bewiesen. Dazu b e dürfte es mindestens einer Röntgenaufnahme des A b domens und einer Proktorektosigmoidoskopie.
Stell dir vor, du liegst auf einem Untersuchungstisch, die Knie bis unters Kinn hochgezogen. Man spreizt dir die Arschbacken und hält sie dann mit Klebeband au s einander. Jemand wendet periabdominalen Druck an, während jemand anders dir eine Pinzette einführt und den Fremdkörper transanal zu bewegen beziehung s weise herauszuholen versucht. Das alles geschieht natürlich unter örtlicher Betäubung. Und natürlich k i chert niemand oder macht Fotos. Aber trotzdem.
Trotzdem. Und ich rede jetzt von mir.
Stell dir das Bild des Sigmoidoskops auf einem Monitor vor, ein helles Licht, das sich durch einen verkramp f ten Tunnel aus Schleimhautgewebe schiebt, feucht und rosa, immer tiefer in die faltige Dunkelheit hinein, bis jeder auf dem Fernsehschirm es sehen kann: de i nen toten Hamster.
Siehe auch: der Kopf der Barbiepuppe.
Siehe auch: die rote Gummikugel.
Ursulas Hand hat aufgehört zu pumpen. Sie sagt: »Ich kann dein Herz hören.« Sie sagt: »Hört sich an, als ob du große Angst hast.«
Nein. Von wegen, sage ich. Mir geht ’ s prima.
»Fühlt sich aber nicht so an«, sagt sie. Ihr Atem streicht warm über meine Periabdominalregion. Sie sagt: »Ich bekomme einen Karpaltunnel.«
»Du meinst ein Karpaltunnelsyndrom«, sage ich. »Aber das kannst du nicht bekommen, weil es erst bei der industriellen Revolution erfunden wird.«
Um zu verhindern, dass ein Fremdkörper weiter in den Dickdarm hinaufwandert, kann man vermittels eines Foley-Katheters einen Ballon in den Dickdarm einfü h ren und oberhalb des Fremdkörpers platzieren. Dann wird der Ballon aufgepumpt. Häufiger wird obe r halb des Fremdkörpers ein Vakuum erzeugt; zum Be i spiel bei selbst beigebrachten Wein-oder Bierflaschen.
Ihr Ohr auf meinem Bauch, sagt Ursula: »Weißt du, von wem es ist?«
Und ich sage, das finde ich gar nicht komisch.
Bei Flaschen, die sich jemand mit dem offenen Ende eingeführt hat, muss man ein Robinson-Katheter am Flaschenhals vorbeischieben und Luft einfließen la s sen, um das Vakuum zu neutralisieren. Bei Flaschen, die mit dem dicken Ende eingeführt wurden, wird ein Refraktor in den Flaschenhals geschoben und die Fl a sche mit Gips gefüllt. Wenn der Gips um den Refraktor hart geworden ist, kann man die Flasche
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