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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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Schlüsselbein zertrümmert haben. Und jetzt wollte er die fertige Gewölbehälfte sehen.
    Im Grunde sprach Julius’ Wunsch seinem Künstler aus der Seele: Zu gerne hätte sich Michelangelo nach zwei Jahren sklavischer Arbeit von der Wirkung seiner Fresken überzeugt. Ob er für die Bibelszenen überzeugende Tableaus gefunden hatte; ob die Scheinarchitektur das Gewölbe in ästhetisch ansprechender Weise gliederte; ob es ihm gelungen war, all die riesigen Propheten und Sibyllen, die er in extremer perspektivischer Verkürzung hatte malen müssen, so auszuführen, dass sich dem Betrachter der Eindruck vermittelte, unter einer gerade Decke zu stehen … Nicht aber an der Seite des Papstes, und schon gar nicht in Julius’ derzeitiger Verfassung.
    Sollte sich die Kühnheit, die den Bildhauer bei seinem Entwurf beflügelt hatte, jetzt, zwei Jahre später, als vermessen erweisen? Es stand zu befürchten, dass Julius seinen Stock an Michelangelos Kopf zu Kleinholz zerschmettern würde. Dutzende entblößter Männerkörper, die der Künstler dem Papst in seinen Entwürfen verschwiegen hatte, alleine zehn Ignudi, deren überlebensgroße Nacktheit nach Michelangelos Vorstellung das Göttliche im Menschlichen priesen – eine Vorstellung, die Egidio da Viterbo ebenso wenig teilen würde wie de’ Grassi oder Julius selbst. Vor lauter männlicher Nacktheit waren die Bibelszenen, die das Herz des Freskos hätten bilden sollen, in den Hintergrund gedrängt worden. Davon konnten alle Propheten, Sibyllen und noch so viele Hinweise auf das Familienwappen der della Rovere nicht ablenken.
    Als der Bildhauer wieder zur Arbeitsbühne emporstieg, zitterten ihm die Hände derart, dass er nach zwei Versuchen, die Arbeit wiederaufzunehmen, kapitulierte.
    »Wir packen ein. Schluss für heute.«
    »Was ist mit dem Rest der aufgetragenen Giornata?«, fragte Rosselli.
    »Abschlagen.«
    Im Laufschritt eilte Michelangelo, flankiert von Rosselli und Aurelio, über den Petersplatz und die Piazza Rusticucci zu seinem Haus, flüchtete sich in seine Kammer und kam für den Rest des Tages nicht mehr zum Vorschein. Es war nicht das erste Mal, dass Aurelio seinen Meister in diesem Zustand erlebte.
    Piero schien denselben Gedanken zu haben: »Ich kenne niemanden, der sich in solcher Geschwindikeit von einem Löwen in ein Eichhörnchen verwandelt«, sagte er, nachdem Michelangelo seine Kammertür hinter sich zugeschlagen hatte. »Und umgekehrt. Es sollte mich nicht wundern, wenn er mit gespreizten Tatzen und hervorspringenden Krallen wieder herunterkommt.«
    * * *
    Michelangelos Angst, sich durch die Enthüllung des Gewölbes den Zorn des Papstes zuzuziehen, sollte sich als unbegründet erweisen. In der Nacht, die Julius’ Besuch in der Kapelle folgte, hatte der Papst eine göttliche Eingebung: Während er einmal mehr ruhelos seine Gemächer durchwanderte, weil, wie er sagte, die Franzosen ihm den Appetit genommen und den Schlaf geraubt hätten, erkannte er seine politische Bestimmung: »Es ist Gottes Wille, den Herzog von Ferrara zu züchtigen und Italien aus den Händen der Franzosen zu befreien.«
    Kaum einer in der Ewigen Stadt zweifelte daran, dass es nicht Gottes Worte gewesen waren, die Julius in dieser Nacht vernommen hatte, sondern die seiner angebeteten Kurtisane, die er mit seinen nicht enden wollenden Klagen zur Weißglut trieb. Und so dauerte es nur wenige Stunden, ehe am Pasquino, einer der »sprechenden Statuen« der Stadt, der erste Spottvers zu lesen war.
    Seit wann ist es Gott, der die Beine spreizt,
    Für des Papstes mickrige Heiligkeit?
    Es hieß, Aphrodites Zornesausbruch sei im gesamten Palast zu hören gewesen: »Dann unternimm endlich etwas!«
    »Aber was denn?«, sollte Julius voller Verzweiflung ausgerufen haben.
    »Lehre Alfonso ein für alle Mal, dass Italien das Schicksal bestimmt ist, unter einem einzigen Herrscher vereint zu werden – dem Vertreter Gottes auf Erden!«
    * * *
    Die Liga von Cambrai hatte sich als ein riesiges Pendel erwiesen, das erst mit gewaltigem Schwung die Macht der Venezianer gebrochen hatte, um am höchsten Punkt kehrtzumachen und sich gegen den Kirchenstaat zu richten. Seit der Schlacht von Agnadello schwebten die Franzosen wie das Schwert des Damokles über dem Haupt der Welt. Und Alfonso d’Este war das größte Hindernis auf dem Weg, sie endlich aus Italien zu vertreiben – der glühendste Stachel in Julius’ göttlichem Fleisch. Letztes Jahr, als es darum gegangen war, gemeinsam mit den

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