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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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oder versagten gänzlich ihren Dienst. Dann staute sich die giftige Brühe unter der Erde und quoll den einst so stolzen Gesichtern, die auf den riesigen, alten Kanaldeckeln prangten, wie Erbrochenes aus Nasen, Augen und Mündern. Da das Bordelletto in einer Senke lag, stand das Abwasser oft tagelang in den Straßen, und das Einzige, was sich darin bewegte, waren Ratten. Deshalb hatte man viele der Gassen mit provisorischen Stegen überspannt. Dennoch trieben sich hier nach Einbruch der Dunkelheit viele zum Teil gutgekleidete Menschen herum. Das Bordelletto nämlich war eines der wenigen Viertel der Stadt, in denen die Cortigiane da candele – die Kerzenkurtisanen – geduldet wurden und unbehelligt ihrem Gewerbe nachgehen konnten.
    Vorsichtig balancierte Aurelio auf einer Planke von einer Straßenseite zur anderen. Als ihm auf halbem Weg ein Trio trunkener Männer entgegenkam, unter deren Gewicht das Holz bedrohlich nachgab, fürchtete er für einen Moment, seine so sorgsam gepflegten Bauernschuhe würden die andere Seite nicht unbeschadet erreichen. Doch es traf einen der Männer. Der Mittlere verlor bei dem Versuch, sich an Aurelio vorbeizuschieben, das Gleichgewicht und landete mit beiden Füßen knöcheltief in der stinkenden Lache. Als sei es nur die Frage gewesen, welchen von ihnen es erwischen würde, fingen die beiden anderen lauthals an zu lachen, und schließlich stimmte der Dritte, der sich von ihnen die Hände reichen und zurück auf die Planke helfen ließ, in ihr Gelächter mit ein.
    Auf der anderen Seite angekommen, erblickte Aurelio eine Hure, den Oberkörper gegen die Hauswand gelehnt, ein Bein angewinkelt. Ihre Hand umfasste einen kleinen Holzhalter, auf dem die zur Hälfte heruntergebrannte Kerze steckte, die ihrem Berufsstand seinen Namen gab. In der Hierarchie der Kurtisanen war eine Cortigiana da candela nur noch zweite oder dritte Wahl. Anders als eine Cortigiana onesta, eine ehrbare Kurtisane, die sich von einem oder mehreren Bewunderern in Luxus betten ließ, war eine Cortigiana da candela meist auf einen Puttaniere – einen Zuhälter – angewiesen und musste sich ihren Lebensunterhalt in allerlei Hinterzimmern erschlafen. Mit anderen Worten: Was eine Cortigiana da candela von einer gewöhnlichen Hure unterschied, war der Umstand, dass sie ihre Freier wenigstens nicht auf offener Straße bedienen musste und sich einen Rest Würde zu bewahren versuchte.
    Die Frau war jünger und gepflegter, als Aurelio angesichts des Gestanks und des Drecks erwartet hätte. Ihm fiel auf, dass sie Trippen trug, hölzerne Überschuhe, die sie größer erscheinen ließen und gleichzeitig ihre Lederschuhe schützten. Ihre prominente Nase wies sie als Griechin aus, ihr Gesicht wurde von dichtem, schwarzem Haar umrahmt. Als sich ihre mit Zinnober gefärbten Lippen zu einem Lächeln kräuselten, bemerkte Aurelio zudem, dass ihr nicht ein einziger Zahn fehlte.
    »Hast du dich verlaufen?«, fragte sie mit dunkler Stimme.
    Offenbar blickte Aurelio sie nicht auf die Weise an, die sie von ihren Freiern gewohnt war.
    »Ich suche eine Kurtisane«, antwortete er unsicher.
    »Wonach sehe ich aus – einer Hebamme?«
    »Ich meine … eine bestimmte …«
    »Ich bin eine bestimmte.«
    »Nein, ich meine: Ja, das sehe ich, dass Ihr eine … bestimmte seid …« Aurelios Gedanken verhedderten sich. »Die mit den schönen Kleidern, das ist ihr Name: Die Kurtisane mit den schönen Kleidern. Wisst Ihr, wo ich sie finden kann?«
    Die Griechin strich sich über die runden Hüften und rückte ihr verbrämtes Dekolleté zurecht: »Dir gefällt mein Kleid nicht?«
    »Doch, entschuldigt …« Plötzlich fiel ihm ein, was Granacci gesagt hatte: dass Margherita sich einen neuen Namen gegeben hatte. »La velata! So heißt sie jetzt: die Verschleierte.«
    Die Cortigiana blickte betont gelangweilt die Gasse hinunter. Bis sie Aurelio den Kopf wieder zuwandte, war das Leuchten aus ihren Augen verschwunden. Sie hatte ihren Köder ausgeworfen, und der hübsche Jüngling hatte ihn verweigert. Jedes weitere Lächeln wäre reine Verschwendung gewesen. »Versuch’s am Ponticello«, sagte sie kurz.
    »Und wo finde ich den?«
    Ihr markantes Kinn deutete zum Palatin hinüber: »Santa Maria Liberatrice.«
    Die Kirche Santa Maria Liberatrice war auf den Überresten eines alten Palastes erbaut worden und lag etwas höher als das übrige Bordelletto. Auch unter dem schmalen Weg, die zu ihr hinaufführte, verlief die Cloaca Maxima. Um den

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