Der Sixtinische Himmel
weiß, wie sie aussieht. So, und jetzt schlafe, Aurelio. In zwei Stunden müssen wir unsere Reise fortsetzen. Ich kann keinen Mann gebrauchen, der mit den Zügeln im Schoß einschläft.«
Margheritas Worte breiteten sich wie ein Fieber in Aurelio aus. Das Schlucken bereitete ihm Mühe, die Beine juckten bis hinunter zu den Zehenspitzen. Nie zuvor war ihm sein Vorhaben, in Rom sein Glück zu suchen, schicksalhafter erschienen. Plötzlich tat sich eine dunkle Kluft vor ihm auf, ohne Anfang und ohne Ende, mit einer Wendeltreppe hinunter ins Nichts.
»Wie heißt sie?«
»Schlaf!«
»Wie ist ihr Name?«
»Habe ich dir nicht soeben erklärt, dass Julius jedem die Zunge herausschneiden lässt, der es wagt, öffentlich ihren Namen auszusprechen?«
Aurelio spürte, wie ihm die Hitze zu Kopf stieg und seine Augen aus den Höhlen presste. »Der Papst mag gute Ohren haben«, hörte er sich sagen, »doch werden sie kaum bis an dieses Bett heranreichen.«
Einen Moment lang hörte er lediglich das Rauschen des Blutes in seinem Kopf, dann beugte sich Margherita über sein Lager. Durch den Stoff ihres Nachtgewandes hindurch drückten sich ihre Brüste gegen seinen Arm. Ihre Lippen berührten sein Ohr.
»Aphrodite. Ihr Name ist Aphrodite. Und jetzt schlaf endlich.«
Mit diesen Worten zog Margherita sich zurück und wandte Aurelio den Rücken zu.
Aphrodite . Der Name durchlief Aurelio wie ein heißkalter Schauer. Als der Morgen heraufdämmerte und die Wände um ihn herum Gestalt anzunehmen begannen, lehnte Aurelio sich aus dem Bett, um durch die winzige Fensteröffnung die Stadtmauer emporzublicken. Die oberen Steinreihen glommen bereits rötlich im Tageslicht. Eine Kreuzspinne hatte im Fenster ihr kunstvolles Netz gesponnen und sich in eine Ecke zurückgezogen, wo sie darauf wartete, dass ihr ein Insekt in die Falle ging.
V
Neun Tage sollte ihre Reise dauern. In dieser Zeit sahen sie Adler kreisen und Wildschweine kämpfen, hörten Wölfe heulen und Ratten fauchen, während der Mond Nacht für Nacht um eine Silberhaut dünner wurde. Sie fuhren an senkrecht in die Tiefe stürzenden Schluchten entlang, badeten in einem Wasserfall, ruckelten unterhalb des Intercisa-Passes durch einen alten Römertunnel und ließen auf diese Weise einen ganzen Berg hinter sich. Bei Fossombrone liefen sie in den Resten einer alten Siedlung herum, in Cagli bestaunten sie Leder- und Wollmanufakturen, bei Narni führte sie eine vierbögige Brücke, die einer Armee standgehalten hätte, über einen reißenden Fluss.
Als sie den Apennin überquerten, übernachteten sie in den Ruinen des Jupitertempels auf der Passhöhe, da sich die erschöpften Maultiere weigerten, auch nur einen Schritt weiter zu tun. Aurelio, der einen beträchtlichen Teil des Aufstiegs hinter dem Wagen hergegangen war, um ihn anzuschieben, versagten ebenfalls die Beine ihren Dienst.
Sie schliefen eng umschlungen auf der Ladefläche. Aurelio erwachte mit eisigen Fingern und Atemwolken vor dem Gesicht. Er löste sich aus der Umarmung der noch schlafenden Margherita und erklomm die Reste des Tempels, um den Punkt mit der besten Aussicht zu finden. Noch nie hatte er eine solche Weite gespürt. Richtete er seinen Blick nach Osten, sah er seine Vergangenheit im milchigen Morgenlicht liegen, drehte er sich nach Westen, erhob sich seine Zukunft vor ihm. Schließlich wandte er sich nach Rom, die Sonne im Rücken, kniete sich auf die Reste einer Freitreppe und dankte seinem Schöpfer.
Sie begegneten Söldnern, Pilgern und Wegelagerern. Von einem geistlichen Würdenträger, der zu seiner Sicherheit eine ganze Kompanie um sich geschart hatte, wurden sie in den Straßengraben gedrängt. Einer alten Frau mit einem verkrüppelten Bein richteten sie für die Dauer eines Tages ein Lager auf dem Wagen her. Während der Fahrt schnitzte Aurelio ihr aus einer Astgabel eine passende Stütze. Er konnte sich nicht erinnern, je einen Menschen so glücklich gemacht zu haben. In den engen Gassen von Nucera Umbra schließlich, dessen Häuser sich aneinanderdrängten wie Schafe bei einem Gewitter, lauerten ihnen Diebe auf, die sie nur deshalb unbehelligt ließen, weil zufällig gerade ein Adliger mit seinem Tross die Straße herunterkam.
Je näher sie dem Haupt der Welt kamen, umso mehr Osterpilger begegneten ihnen. Selbst jetzt, da der heilige Sonntag bereits eine Woche zurücklag, strömten sie noch immer zu Tausenden aus der Stadt. Die beiden letzten Nächte hatten sie in Herbergen zugebracht, in
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