Der Sixtinische Himmel
Gardisten der Schweizergarde vorbei in den Vatikan geführt, war mit ihm zwischen engstehenden Mauern entlanggegangen und schließlich in diesen Hain gelangt. Zu ihrer Rechten schimmerten die Kräne und Gerüste der Baustelle von Sankt Peter durch die frisch belaubten Baumkronen. In einer Stunde würden die ersten der zweitausend Arbeiter anrücken, die Bramante dort beschäftigte. Jetzt jedoch lag die größte Baustelle der Welt noch in ungestörtem Schlaf.
Michelangelo sah seinen neuen Gehilfen herausfordernd an. Einmal mehr wusste Aurelio nicht, was von ihm erwartet wurde. Überhaupt kam er sich seit gestern fürchterlich dumm und unwissend vor. Zu Hause, auf ihrem Hof, hatte er immer gewusst, was zu tun war – und wie es zu tun war. Jeden Handgriff hatte er von klein auf gelernt. Unsicher blickte er sich um. Vor ihnen ragte eine mächtige Mauer auf.
»Du wolltest wissen, was der Grund dafür ist, dass die Kapelle nicht ohne weiteres mit einem Fresko ausgeschmückt werden kann. Nun«, Michelangelo deutete mit dem Kinn geradeaus, »das ist er.«
Aurelio wusste, dass das nicht die richtige Antwort sein konnte, doch etwas anderes wollte ihm nicht einfallen: »Eine Mauer?«
Michelangelo deutete mit dem Zeigefinger gen Himmel. Aurelio trat aus dem Hain heraus. In ungefähr dreißig Fuß Höhe waren Fenster in die Mauer eingelassen. Noch weiter oben zog sich ein Wehrgang mit Schießscharten entlang. Die Mauer war keine Mauer, sondern …
»Eine Festung?«
»Eine Festung des Glaubens«, antwortete Michelangelo. »Die Sixtinische Kapelle.«
Während er den ungläubigen Aurelio um das Gebäude herumführte, erklärte er ihm, was es mit der Kapelle für eine Bewandtnis hatte. Ihre eigentümliche Form verdankte sie der Bibel. Dort hieß es, der Tempel des Salomon sei zweimal so lang wie hoch und dreimal so lang wie breit gewesen. Papst Sixtus, der Julius’ Onkel gewesen war, hatte sich also vor dreißig Jahren einen zweiten Salomontempel erbauen lassen. Und weil Sixtus nach seiner Wahl im Jahre 1471 von aufgebrachten Römern mit Steinen beworfen worden war, legte er besonderen Wert darauf, dass die nach ihm benannte Kapelle gleichzeitig ein Bollwerk sein würde, gegen das auch der aufgebrachteste Pöbel machtlos wäre. Es konnte einen also nicht wundernehmen, dass er Pontelli mit den Ausführungen beauftragte, denn dieser hatte vor allem durch die Entwürfe von Militärbauten Bekanntheit erlangt. An der Basis hatten die Mauern eine Stärke von zehn Fuß. Vom Wehrgang aus ließ sich die gesamte Stadt überblicken, und die Räume oberhalb des Gewölbes dienten als Quartiere für die Soldaten.
»So«, beendete Michelangelo seine Ausführungen. Sie waren vor einer überraschend schmalen Seitentür angelangt. Er legte eine Hand auf den Knauf. »Und jetzt zu den Schwierigkeiten.«
Aurelio blieb der Mund offen stehen. Langsam bewegten sich seine Füße über die bunten Steinmosaiken, während er mit in den Nacken gelegtem Kopf die Wände abschritt. Die Flächen unterhalb der Fenster waren bereits ringsum mit Fresken versehen, jedes einzelne etwa zwanzig Fuß breit und zwölf Fuß hoch. Michelangelo erklärte ihm, dass nach dem letzten Krieg gegen das konkurrierende Florenz Lorenzo de’ Medici als Geste der Versöhnung eine Gruppe Florentiner Künstler nach Rom geschickt hatte, um die Wände der damals neuen Kapelle zu schmücken – unter ihnen Perugino, Botticelli und Michelangelos späterer Lehrmeister Ghirlandaio.
»Der hätte den Auftrag für die Decke liebend gerne angenommen«, sinnierte Michelangelo. »Wäre dem Papst damals eingefallen, die leoninische Mauer rundherum und von beiden Seiten mit Fresken zu verspachteln – Ghirlandaio wäre der Erste gewesen, der ihn angefleht hätte, sein Gerüst aufbauen zu dürfen.«
Die Erwähnung der Decke lenkte Aurelios Aufmerksamkeit auf den eigentlichen Grund ihres Kommens. Auch sie war bereits mit einem Fresko versehen, allerdings nicht mit einem szenischen. Die Strahlkraft der Farben war dafür umso gewaltiger. Kopfüber tauchte man in einen tiefblauen Himmel, auf dem goldene Sterne leuchteten und der die gesamte Decke überspannte. Die goldenen Sterne leuchteten auf dem tiefblauen Hintergrund, als könne man sie vom Gewölbe pflücken.
»Das Werk Piermatteo d’Amelias«, sagte Michelangelo. »Nicht besonders originell, dafür umso teurer.«
»Die Farben …«, setzte Aurelio an.
»Gold und Ultramarin. Die kostbarsten Farben, die zu bekommen sind. Letzteres
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