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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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2011: 26). Es überrascht nicht, dass auch amerikanische Muslime ihre grundsätzliche »Akzeptanz« in der Gesellschaft betonen und mit dem »Getto«-Gefühl ihrer Glaubensgeschwister in Europa kontrastieren (Husain 2012).
    Etwas andere Ergebnisse erhalten wir allerdings, wenn wir die Aufmerksamkeit von religiös-kulturellen Minderheiten auf eine weitere, nicht minder diskriminierungsanfällige Gruppe richten, nämlich Homosexuelle. Vor allem Schwule, aber auch Lesben und Bisexuelle sind nach den Statistiken des amerikanischen FBI weit häufiger von Verbrechen aus Hass betroffen als Juden und Muslime (vgl. Stotzer 2012). Nun kommen diese Gruppen, die sich gegen die Heteronormativität der Mainstream-Gesellschaft wehren, in der Multikulturalismus-Debatte normalerweise nicht vor. Kymlicka (1998: Kap. 6) hat allerdings darauf hingewiesen, dass insbesondere Schwule seit langem eine eigenständige transnationale Kultur ausgebildet haben, die als Ressource sozialer Freiheit gelebt wird und daher schützenswert ist. Das übliche Set multikulturalistischer Maßnahmen und Programme eignet sich aber nicht zum Schutz dieser und verwandter Gruppen, da sie Attribute nationaler oder ethnischer Minderheiten allenfalls simulieren. San Francisco war lange Zeit eben nur in einem metaphorischen Sinn das »Mekka« oder »Jerusalem« von Schwulen und Lesben. Das Projekt, die queer nation als ein distinktes Volk zu konzipieren und damit Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung zur Basis eines kollektiven Autonomieprojekts zu machen, kann schon deshalb nicht funktionieren, weil unklar bleibt, wie das Problem der generationenübergreifenden Kontinuität gelöst werden soll. Homosexualität ist schließlich weder vererbbar noch in Schulen erlernbar. Anders als jüdische und muslimische Kulturen sind die neuen kollektiven Kulturen von Schwulen und Lesben zwar Ressourcen der Freiheit, aber nicht Ressourcen von Projekten, die neue Staaten bilden oder alte bedrohen können. Letztere Eigenschaft eint die Zielgruppen der Politik des Multikulturalismus.
    Gleichwohl gibt es einen engen Zusammenhang zwischen dem Multikulturalismus, der auf die Bedürfnisse von Einwanderern und religiös-kulturellen Minderheiten abgestimmt ist, und der Anerkennung eines größeren Kreises von benachteiligten Gruppen. Der Multikulturalismus funktioniert wie eine neue »Sprache« (ebd.: 103) der Inklusion, die, einmal in die Welt gesetzt, auch von anderen Gruppen verwendet werden kann, um für eine offenere Gesellschaft zu streiten. Hinzu kommt, dass insbesondere Homosexuelle in der Kritik am Multikulturalismus eine prominente Rolle spielen. Susan Okins klassische Suggestivfrage, ob der Multikulturalismus schlecht ist für Frauen, wurde mit dem Hinweis auf homophobe Tendenzen in verschiedenen ethnischen Einwanderermilieus auch für Homosexuelle gestellt (zur Diskussion vgl. Hooghe et al. 2010). Während in der alltäglichen Realität Homosexualität ein »aspektivisches« Identitätsmerkmal ist, das zu anderen Merkmalen hinzutritt, wird in Teilen der öffentlichen Diskussion so getan, als seien Homosexuelle eine eigene Gruppe im Unterschied zu Muslimen, Juden oder anderen. Besonders zwei Figuren sind in der globalen Debatte um interminoritäre und intersektionale Beziehungen prominent geworden: die Figur des homophoben Muslims und die Gegenfigur des proisraelischen Homosexuellen. Die erste Figur verbindet Liberalismus und Intoleranz und wurde von europäischen Rechtspopulisten etwa in den Niederlanden eingesetzt. Die zweite Figur verbindet Philosemitismus, Toleranz und das, was man »Homonationalismus«, »gay imperialism« oder »pinkwashing« nennt, das heißt die Apologie tatsächlich oder vermeintlich neokolonialer Staatsprojekte im Namen der Geschlechterfreiheit. Gemeinsam ist diesen Strategien, dass sie Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung zu Ankern von übergreifenden Mobilisierungen machen. Diese Mobilisierungen sind immer dann fragwürdig, wenn sie die Realität der Verwobenheit unterschiedlicher Diskriminierungen sowie der solidarischen Beziehungen zum Beispiel zwischen Schwulen, Lesben und Muslimen (jedweder Orientierung) unsichtbar machen. 46
Die Rolle der Staatsangehörigkeit
    Ein großer Teil der Debatte um den Multikulturalismus beruht auf der Unterscheidung von rechtlichen und nichtrechtlichen Formen der Anerkennung und einer gewissen Privilegierung letzterer. Die rechtliche Gleichstellung der Religionen, Rassen und Geschlechter wird

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