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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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eigenen Umgebung einzuschlagen (Anidjar 2003: 18f.) Der Nachbar war plötzlich nur noch ein beliebiger Anderer, nicht mehr, wie im Alten Testament und noch im Lukas-Evangelium, der schutzbedürftige Nächste (Eagleton 2009: 59). Ab dem 11. Jahrhundert wurden dann die Juden generell als offizieller Feind der Christenheit eingestuft. Schon vor den Kreuzzügen ergab sich zudem die Aufgabe, die verhassten Juden von den nicht minder verhassten, nach Europa drängenden muslimischen Arabern zu unterscheiden. Anidjar schildert, wie diese Binnendifferenzierung innerhalb der Sammelkategorie der Feinde Europas über Jahrhunderte kirchliche Gelehrte beschäftigte. Manchmal wurden die Unterschiede zwischen Juden und Muslimen betont, obwohl man sie nicht recht benennen konnte, andere Male ging man dazu über, die Muslime, die damals noch Sarazenen, Mohammedaner, Ismaeliten oder pauschal Türken hießen, kurzerhand als die »neuen Juden« (Anidjar 2003: 34) zu bezeichnen. In verschiedenen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen ist auch bereits die Rede von der Gefahr einer gemeinsamen Front der »beschnittenen Völker« gegen Europa (ebd.). Denn auch wenn die Juden die Muslime nicht zu mögen scheinen, heißt es etwa in einem Baseler Text aus dem Jahr 1573, »sind sie heimlich ihre Freund’ die weil sie auch beschnitten sind« (zit. nach Heil 2012: 31f.).
    Die jüngste deutsche »Beschneidungsdebatte« hat erneut den Umstand ins allgemeine Bewusstsein zurückgerufen, dass die Religion von Juden und Muslimen, sofern sie praktiziert wird, mehr ist als ein Glaube, nämlich einevon zahlreichen Regeln geformte Lebensführung, die sich nicht immer reibungslos in die Normalitätserwartungen der übrigen Gesellschaft einfügt. Diese Differenz wiederum wird bis heute zum Anlass für Vorstellungen über Judaismus und Islam als totalisierenden Ideologien genommen, die das Leben ihrer Anhänger vollständig durchdringen und steuern. Der viel zitierte »backlash« gegen den Multikulturalismus ist nicht nur eine Ideenkritik, sondern richtet sich gegen konkrete Gruppen, insbesondere gegen Muslime. 44 Muslime gelten seit Langem als Repräsentanten einer »anderen« Kultur, während Juden historisch als Grenzgänger zwischen Kulturen und verdächtige Repräsentanten einer globalen »Interkultur« wahrgenommen wurden. Heute ist an die Stelle des »wandernden Juden« aus christlichen Legenden der muslimische Migrant getreten. Eine bestimmte Population wird pauschal – und im Gegensatz zu Befunden der empirischen Sozialforschung 45 – unter eine Religionskategorie subsumiert, die wiederum mit bestimmten außereuropäischen Herkunftsregionen identifiziert wird. So verschmelzen die beiden Figuren des »Migranten« und des »Muslims« im öffentlichen Diskurs wie auch in statistischen Erhebungen zu einer Einheit (Tezcan 2012: 140; Johansen und Spielhaus 2012).
    Das doppelte Motiv des Verhältnisses von Juden und Muslimen einerseits und der Beziehung zwischen Antisemitismus und Islamophobie andererseits wird in zahlreichen Diskursen aufgenommen. Diese Diskurse sind oft komparativ, indem sie Parallelen und Unterschiede zwischen Islamophobie und Antisemitismus herausarbeiten (Benbassa 2004; Shooman 2012; Meer 2013), und manchmal auch prophetisch, indem sie die Schwesternsolidarität zwischen orthodoxen jüdischen und muslimischen Kopftuchträgerinnen beschwören oder die Türken in Deutschland als »die natürlichen Partner der Juden« anrufen (Golan 2011; Bodemann und Yurdakul 2009: 229).
    Wenn wir die Situation von Juden und Muslimen in Ländern der OECD zum Gradmesser für die Qualität multikultureller Demokratie nehmen, gibt es keinen Zweifel an der Überlegenheit der Vereinigten Staaten und anderer Mächte des »angelsächsischen Imperiums« (Döblin). Für die amerikanischen Juden hat Alan Dershowitz (1998: 1) festgestellt, dass die meisten von ihnen alles erreicht haben, was ihnen in Europa immer verwehrt wurde: »acceptance, influence, affluence, equality«. Auch wenn man dasselbe in dieser Allgemeinheit nicht für die amerikanischen Muslime behaupten kann, so ist doch bemerkenswert, dass nach dem 11. September 2001 und den anschließenden sporadischen Angriffen auf Muslime in den USA nichtmuslimische Frauen aus Solidarität Kopftücher und Hijabs trugen, dass Karten, Blumenund Geldspenden an muslimische Gemeinden geschickt wurden und Bürger in einigen Städten als Zeichen der Solidarität Menschenketten um Moscheen bildeten (Peek

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