Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
sondern im Innern einer Kultur gemacht werden kann. Die Vorstellung, dass das kulturell »Andere« erst durch Einsickern von außen in einem kulturellen Binnenraum auftaucht und eine bis dahin robuste Identität in die Krise stürzt, nennt er »essentialistisch«. In Wirklichkeit ist kulturelle Identität ähnlich wie Sprache ein Prozess, der je nach Situation bestimmte Aspekte der eigenen Subjektivität freilegt oder verhüllt. Tully verwendet hierfür (im Anschluss an Wittgenstein) den Ausdruck »aspektivisch«:
»On the older, essentialist view, the ›other‹ and the experience of otherness were by definition associated with another culture. One’s own culture provided an identity in the form of a seamless background or horizon against which one determined where one stood on fundamental questions. […] Having an identity consisted in being oriented in this essential space, whereas the loss of such a fixed horizon was equated with an ›identity crisis‹; with the loss of all horizons. On the aspectival view, cultural horizons change as one moves about, just like natural horizons. The experience of otherness is internal to one’s own identity.« (Tully 2005: 13)
Ebenso wie ich selbst im vorigen Absatz spricht auch Tully hier immer noch von einem »Inneren« der kulturellen Identität, obwohl seine These darauf abzielt, genau diese räumliche Unterscheidung zwischen dem Innen und Außen einer Kultur zu verwerfen. Wir befinden uns immer schon in einer »ausgehandelten«, »interkulturellen« Situation, von der aus wir Gemeinsamkeiten und Differenzen mit anderen ausloten, fixieren und mit Bedeutungen versehen (ebd.: 14).
Daraus ergibt sich die Bestimmung des modernen Imperialismus als einer praktischen Denkform, die jene interkulturelle Ausgangslage verdunkelt, indem sie bestimmte Ansprüche von marginalisierten Gruppen auf »kulturelle Anerkennung« unkenntlich macht oder als illegitim verwirft. Dies kann dadurch geschehen, dass man wie Kant die Tatsache der kulturellen Vielfalt leugnet oder auf ein vorübergehendes Phänomen reduziert. Dagegen beharrt Tully zunächst einmal auf der Freilegung dieser empirischen Vielfalt: »Eine andere Welt ist wirklich« (Tully 2008: II, 301). Dort, wo kulturelle Vielfalt zur Kenntnis genommen wird, kommen andere Techniken zum Tragen, von der Assimilation bis zur Vorgabe der Rahmenbedingungen, unter denen es stigmatisierten Gruppen gestattet wird, um Anerkennung zu kämpfen. Im Anschluss an Taylor bekräftigt Tully das Ideal einer multikulturellen Gesellschaft, in der sich unterschiedliche Gruppen nicht nur in ihren kulturellen Besonderheiten anerkennen, sondern auch in ihrem Bedürfnis, immer wieder aufs Neue herauszufinden, was überhaupt als anerkennungwürdig gelten soll. Anerkennung heißt nicht, dass eine Minderheit nach der Wertschätzung durch eine Mehrheit strebt, die unberührt bleibt von diesem Streben nach Anerkennung. Einen solchen falsch verstandenen Kampf um Anerkennung verkörpert die von Frantz Fanon karikierte Figur des schwarzen »Ankömmlings« aus den Kolonien, der in Frankreich zu reüssieren versucht, indem er die Sitten und Umgangsformen der Metropole nachahmt. Tully hat eine andere Art von Bestrebung im Sinn:
»[…] a struggle for recognition of a ›minority‹ always calls into question and (if successful) modifies, often in complex ways, the existing forms of reciprocal recognition of the other members of the larger system of government of which the minority is a member. No members (including parliaments, courts and states) are transcendent to the field of struggle. […] That is, struggles over recognition are relational and mutual rather than independent, as well as multiple rather than dyadic. In a word, they are complex struggles ›over‹ recognition, not simply ›for‹ recognition.« (Ebd.: I, 293)
Um diese Aussage besser zu verstehen, mag man sich verschiedene Beispiele vor Augen führen. Eine diskriminierte oder unterdrückte ethnische Minderheit kann dafür kämpfen, ihre Situation innerhalb des gegebenen Staatsverbands durch Konzessionen der Zentralregierung, etwa die Gewährung von Sprachautonomie und anderen Sonderrechten, zu verbessern, oder sie kann in der internationalen Arena für die diplomatische Unterstützung eines eigenen Staatsgründungsprojekts werben (vgl. zum Beispiel Heins 2012a). Internationale Watchdog-Gruppen und Nichtregierungsorganisationen können dafür streiten, dass bestimmte normative Standards für alle
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