Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
gleichermaßen gelten, dafür, dass solche Standards für bestimmte Situationen und Gruppen der Weltbevölkerung gelockert oder kontextsensibel angewendet werden sowie schließlich dafür, dass bestimmte globale Normen überhaupt erst geschaffen werden (Heins 2008). Benachteiligte Personen und Gruppen sowie ihre Fürsprecher kämpfen für ihre Anerkennung im Licht bestimmter Prinzipien von Freiheit und Gleichheit, aber sie kämpfen häufig auch um die Neubestimmung des Gehalts dieser Prinzipien, der seinerseits umstritten sein kann. Diese Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität von Kämpfen um Anerkennung beobachtet Tully auch im Feld von multikulturellen Konflikten. Diese Konflikte werden sowohl im Rahmen der Bürgerschaft geführt als auch darüber, wie dieser Rahmen des Bürgerstatus zeitgemäß definiert und angepasst werden kann – »both within and over the conditions of citizenship« (Tully 2008: I, 164).
Statt von Kämpfen um Anerkennung spricht Tully auch von »Identitätspolitik«. An diesem Begriff hält er fest, obwohl er geschlossene und robusteGruppenidentitäten nicht als selbstverständlich gegeben voraussetzen möchte:
»Identity politics is not a politics of many separate, bounded and internally uniform nations, cultures or other forms of identity, each seeking separate and compatible recognition and political associations, even though leaders often portray them in this manner and employ powerful processes of assimilation to eliminate internal differences. Rather, demands are articulated around criss-crossing and overlapping allegiances: Indigenousness, nationality, culture, region, religion, ethnicity, language, sexual orientation, gender, immigration and individual expression.« (Ebd.: I, 167)
Diese aufgelisteten Aspekte von Identität können zum Angelpunkt einschneidender Erfahrungen, »starker Wertungen« (ebd.: I, 169), eines gemeinsamen Selbstbewusstseins und folgenreicher Mobilisierungen werden. Aus der Tatsache, dass kollektive Identitäten instabil, variabel und kontextabhängig sind, kann man demnach nicht schließen, dass man sie außer Acht lassen und das singuläre Individuum und seine Rechte zur einzigen relevanten Bezugsgröße demokratischer Politik machen sollte.
Nun macht Tully keine genaueren Aussagen über die Trends und Potenziale von spezifischen Konflikten. Der Preis seiner Philosophie, die Gerechtigkeitsprinzipien den Stimmen der Subalternen ablauschen möchte, besteht darin, dass er keine Möglichkeit hat, normativ begrüßenswerte von unerwünschten Strömungen und Bewegungen zu unterscheiden. Die Aufgabe der öffentlichen Philosophie ist es, den Gruppen, die um Anerkennung kämpfen, zuzuhören, ganz im Sinne der klassischen Rechtsmaxime audi alteram partem (»Höre auch die andere Partei«). Die Pointe dieses wiederkehrenden Motivs, das schon bei Taylor anklingt und in jüngerer Zeit in Axel Honneths Kritik »idealer« Theoriebildung wiederkehrt, besteht in einer Neubestimmung der Aufgabe der politischen Philosophie. Sie soll nicht freischwebend gerechte Normen entwickeln, sondern wie alle übrigen demokratischen Institutionen die gesellschaftlichen Subjekte selbst zu Wort kommen lassen und ihnen Gehör verschaffen (ebd.: I, 163, 176 et passim; Honneth 2011).
»Höre auch die andere Partei« – diese klassische, von Tully radikalisierte Maxime verweist außerdem auf sein alternatives Konzept der normativen Integration in kulturell heterogenen Gesellschaften. Ähnlich wie Taylor ist Tully weit davon entfernt, die politischen Risiken einer Fragmentierung der Gesellschaft in selbstbezogene kulturelle Enklaven zu unterschätzen. Daher ist auch für ihn Integration ein Ziel. Integration wird allerdings nicht verstanden als einseitige Anpassung von Minderheiten an eine Leitkultur, sondern als Resultat aller institutionellen Voraussetzungen, unter denen auch als fremd markierte Minderheiten und Neuankömmlinge ein Zugehörigkeitsgefühl ( sense of belonging ) zum Gemeinwesen entwickeln. Seine These ist, dass sich selbst da, wo Kämpfe um Anerkennung scheitern, solche Zugehörigkeitsgefühle entwickeln können, sofern die Adressaten dieser Kämpfe verstehen, den anderen zuzuhören (Tully 2008: I, 172). Um mit einem Wortspiel zu schließen: »Zugehörigkeit« kommt nicht von Hörigkeit, sondern von Zuhören; sie bildet keinen Gegensatz zur Freiheit, sondern deren Entsprechung.
Das Einfache, das leicht zu machen ist: Kymlicka
Im Gegensatz zu Tullys antiimperialer
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