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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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fungieren. Woher rührt dieses Misstrauen? Ein Grund, den Tully beiläufig nennt, sind die Beispiele einzelner humanistischer Gelehrter in Europa, die sich ungeachtet ihrer im Hörsaal verkündeten universalistischen Ideale zu den Nationalsozialisten bekannten. Für Tully folgt daraus die Aufgabe, »die kritische Philosophie weniger abstrakt zu machen, indem man sie so eng wie möglich an spezifische Kämpfe bindet« (ebd.: I, 101).
    Der tiefere Grund für Tullys Ersetzung der Leitwerte »Theorie« und »Gerechtigkeit« durch »Freiheit« und »Praxis« liegt darin, dass die Ahnherren der bis heute einflussreichen Gerechtigkeitstheorien in ihrem Denken zutiefst in das Projekt des europäischen Imperialismus verstrickt waren. Dies gilt für Hobbes und Hegel, aber mehr noch für Kant. In einem Schlüsselessay mit dem Titel »A critique of the Kantian idea of Europe« hält Tully verschiedene Argumente gegen Kant bereit (ebd.: II, Kap. 1). Kant hat demnach den Code zivilisiert/barbarisch auf die gesamte Weltbevölkerung angewendet und darüber hinaus ein Stufenmodell der historischen Entwicklung konstruiert, das Europa an die uneinholbare Spitze dieser Entwicklung stellt. Mit anderen Worten: Kants Kosmopolitismus ist bei näherer Betrachtung ein kultureller Imperialismus. Für Tully ist Kant ein zutiefst problematischer Denker, weil er durch sein Fortschrittsmodell gezwungen ist, radikal antipluralistisch zu argumentieren. Tatsächlich heißt es an einer Stelle in der Schrift Zum ewigen Frieden :
    »Verschiedenheit der Religionen: ein wunderlicher Ausdruck! gerade, als ob man auch von verschiedenen Moralen spräche. Es kann wohl verschiedene Glaubensarten historischer, nicht in die Religion, sondern in die Geschichte der zu ihrer Beförderung gebrauchten, ins Feld der Gelehrsamkeit einschlagender Mittel und ebenso verschiedene Religionsbücher (Zendavesta, Vedam, Koran usw.) geben, aber nur eine einzige, für alle Menschen und in allen Zeiten gültige Religion.« (Kant 1977b: 225f., Fn.; Tully 2008: II, 25)
    Außereuropäische religiöse und moralische Normen oder Ideale sind folglich allenfalls Durchgangsstadien oder zufällige »Vehikel« (ebd.) des Fortschritts, die man wegwerfen kann, sobald man das europäische Kulturniveau erreicht hat. Das kulturell Fremde ist automatisch das evolutionär Niedrigere, Unreinere, sich Verflüchtigende. Mit dieser Verabschiedung jedes ethischen Pluralismus erübrigt sich zugleich die Idee eines offenen interkulturellen Austauschs. Kant bietet für Tully das Musterbeispiel einer Philosophie, die deshalb gefährlich ist, weil sie im Namen der Aufklärung und Mündigkeit den Dialog verweigert. Mit dieser polemischen Zuspitzung verfolgt Tully die Absicht, den Begriff der Freiheit vor einer bestimmten Sorte des philosophischen Liberalismus zu retten.
    Freiheit heißt nicht nur, dass man tun kann, was man will, sondern auch, dass man das, was man will, durch Einsicht korrigieren kann. In diesem Sinne frei sein können für Tully sowohl einzelne Bürger als auch ganze »Völker« (ebd.: I, 161). Diese können auch dann, wenn sie politisch unabhängig sind, unfrei sein in dem Sinne, dass ihnen die Kraft fehlt oder durch »informellen Imperialismus« (ebd.: II, Kap. 5) genommen wurde, sich an selbstgewählten kulturellen Vorbildern zu orientieren. Tully diskutiert seinen Begriff der Völker nicht am Beispiel moderner Nationen, sondern am Beispiel jener indianischen Nationen, die der Gründung moderner Staaten in Nordamerika und anderen Teilen der Welt vorhergegangen sind. Wo es sie heute noch gibt, wird die Freiheit dieser Völker durch Verträge geschützt, von denen es allein in Kanada über fünfhundert gibt. Diese bilden den »normativen Prototyp« (ebd.: I, 226) einer gerechten, konföderalen Beziehung zwischen der Zentralregierung und den Ureinwohnern. Die Ausübung der kollektiven Freiheit besteht weder in der rigiden Fortsetzung traditioneller Sitten und Gewohnheiten noch in deren vollständiger Überwindung zugunsten einer modernen Lebensweise, sondern in der selbstbestimmten Öffnung gegenüber Neuerungen. Nicht einmal indigene Gruppen sind gefangen innerhalb der Grenzen ihrer traditionellen Kultur. In dem Maße, wie sie frei sind, können sie sich vielmehr aus sich heraus erneuern und anders werden.
    Diesen Gedanken generalisiert Tully, indem er die These vertritt, dass die Erfahrung kultureller Differenz nicht durch das Vordringen einer anderen Kultur herbeigeführt werden muss,

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