Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
werden«, lautet ein anderer seiner Kernsätze (Taylor 1996: 654). Anstatt die Individuen über einen Kamm zu scheren oder ihre Zugehörigkeit zu Gruppen zu verdinglichen, vertritt der Multikulturalismus eine subjektivistische Position.
Will Kymlicka, prominentester Vertreter eines liberalen oder »schwachen« Multikulturalismus (Shachar 2001: 29), ist derjenige, der das ungelöste Problem von Unterdrückung und Dissens innerhalb von ihrerseits unterdrückten ethnischen Gruppen überhaupt erst als solches formuliert und in den Mittelpunkt seiner Theorie gerückt hat. James Tully beginnt sein Buch Strange Multiplicity mit der Zurückweisung der Vorstellung von Kulturen als getrennten, umgrenzten Einheiten, die wie Bienenwaben oder »Billardkugeln«, so sein Bild, nebeneinander liegen. Stattdessen entwickelt er einen alternativen Begriff von Kulturen als einander überlappende, interaktive und intern ausgehandelte Lebensformen: »cultures are not homogeneous. They are continuously contested, imagined and re-imagined, transformed and negotiated, both by their members and through interaction with others« (Tully 1995: 10f.). Zwar wird Tully nicht umsonst von Shachar (2001: 28) als Repräsentant eines »starken« Multikulturalismus zitiert, da er den Eindruck erweckt, dass seine posteuropäische, indianisch-amerikanische Utopie die Herstellung gerechter Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen höher schätzt als die Garantie individueller Freiheiten innerhalb dieser Gruppen. Bei genauerer Betrachtung differenziert Tully aber zwischen individueller und kollektiver Freiheit, ohne eine der beiden Varianten von Freiheit der anderen unterzuordnen. Vorwerfen kann man ihm allenfalls, dass er eine allzu problemlose Konvergenz beider Varianten unterstellt (Tully 2008: I, 161f.).
Wichtiger als die Frage, ob man einzelnen Autoren tatsächlich einen verdinglichten Begriff von gruppenbezogenen Kulturen vorwerfen kann, finde ich die Frage nach den Konturen einer Konzeption von Gruppen und kulturellen Praktiken, die beide Klippen umschifft: die Klippe des Essentialismus und die Klippe eines philosophischen » Singularismus « (Pettit 2009: 604), der nur noch Individuen kennt und jedes kollektive Selbstbestimmungsrecht ablehnt, weil Kollektive keinerlei normative Dignität haben. Die Konsequenzen dieser Position kann man bei dem Erziehungswissenschaftler Frank-Olaf Radtke nachlesen, der Kymlicka und Taylor für ihre positive Haltung zur Autonomie der frankophonen Bevölkerung in Quebec kritisiert. Radtke findet es falsch, »wenn Immigranten in Montreal die freie Wahl der Schule für ihre Kinder verweigert wird, um sie sprachlich in die Frankophonie zu zwingen« (Radtke 2009: 46, Fn. 5). Eine Alternative, die Radtke vielleicht vorschwebt, wäre es, allen Einwanderer und ihren Kindern freizustellen, sichzwischen Englisch und Französisch zu entscheiden. Diese Option hätte vermutlich das allmähliche Verschwinden der französischen Sprache und der frankophonen Minderheit in Kanada zur Konsequenz. Oder aber Radtke möchte, dass man Einwanderern überhaupt keinerlei offizielle Sprache mehr als verbindlich vorgibt. Wer die Konsequenzen einer solchen Politik scheut, wird um irgendeinen Begriff von gemeinsam geteilten, geschätzten und daher auch schützenswerten Kulturen nicht herumkommen. Nicht nur jede Konzeption des Multikulturalismus, sondern auch eventuelle Alternativen wie »Interkulturalismus« oder »kultureller Pluralismus« brauchen einen Begriff der Kultur, damit sie den Gegenstand bestimmen können, den sie gerne in vielfältiger Ausführung bewahrt und gefördert sehen würden. Das Konzept eines »Multikulturalismus ohne Kultur«, das Anne Phillips (2007) vorgeschlagen hat, kann nur eine Zwischenlösung sein.
Der Begriff des Multikulturalismus ergibt nur Sinn, wenn man mehrere heterogene Kulturen unterscheiden kann, die auf demselben Territorium koexistieren, ohne in einem eindeutigen Herrschaftsverhältnis zueinander zu stehen. Aus einer Multitude autonomer Individuen entsteht nicht unbedingt Vielfalt, sondern oft auch Gleichförmigkeit und Selbstunterwerfung. In den klassischen Vertragstheorien war dies sogar die zentrale Idee. Der Kulturbegriff ist dazu da, Vielfalt denkbar zu machen, die begrifflich von individueller Autonomie unterschieden werden muss. Unter »Kultur« ist folglich etwas anderes zu verstehen als individueller Lebensstil oder persönliche Präferenz. Der Begriff impliziert vielmehr Praktiken der
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