Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
kann selbst Gruppenbildungsprozesse befördern, indem »Fremdsein als Gemeinsamkeit« entdeckt wird, wie Riem Spielhaus (2011) am Beispiel deutscher Muslime demonstriert hat. Einwanderer aus mehrheitlich muslimischen Ländern, so das Ergebnis ihrer empirischen Untersuchung, sind häufig erst in Deutschland zu den Muslimen geworden, als die sie schon vorher wahrgenommen und stigmatisiert wurden. Dies geschah in einem Prozess der Umformung feindseliger Zuschreibungen und Fremddefinitionen in eine positive Selbstdefinition der eigenen Identität. Spielhaus macht deutlich, wie »Türken, Kurden, Ägypter, Bosniaken und Albaner« (ebd.: 102) einander als Muslime wahrzunehmen lernten und gemeinsame Orientierungen und Einstellungen ausbildeten. Etwas Ähnliches zeigt Nicole Falkenhayner (2014) für britische Muslime, die erst im Kontext der Affäre um Salman Rushdies umstrittenen Roman Die Satanischen Verse von den Medien als homogene Gruppe repräsentiert wurden, dann aber auch selbst erstmals als Muslime in der Öffentlichkeit auftraten und protestierten.
Diesen Prozess des wechselseitigen Gewahrwerdens von Individuen, die sich allmählich als Angehörige einer Minderheit verstehen, kann man nur dann erfassen, wenn man Gruppen nicht in essentialistischer Manier für bereits gegeben hält. Solche Befunde sprechen aber auch gegen den Singularismus, der nur Einzelwesen als real akzeptiert und jegliches Konzept kollektiver Bedeutungspraktiken verwirft. Der Singularismus ersetzt die Teilnehmer- durch eine Beobachterperspektive, indem er sich darauf beschränkt, zu registrieren, wie Individuen in Gruppen eintreten und aus ihnen wieder austreten. In einer an Taylor (oder auch Honneth 2010) geschulten Perspektive käme es jedoch darauf an, zu verstehen, warum Individuen unter den Bedingungen von Rassismus und Gruppendiskriminierung der eigenen Community die Treue halten, auch wenn sie in ihr schlecht behandelt werden. Ayelet Shachar nennt das Beispiel einer unbestimmten Zahl muslimischer Frauen:
»[…] although they may be subject to such injurious burdens within their communities, women may still find value and meaning in their cultural traditions and in continued group membership. This phenomenon is especially visible in situations where the minority culture as a whole is subject to repressive pressures from the outside society. Under such circumstances, group members feel expectations and often obligations to rally around their cultural membership […].« (Shachar 2001: 61; meine Hervorhebung)
Unter den Bedingungen von Diskriminierung und Missachtung rücken viele Einzelne, unabhängig von ihrer Stellung innerhalb der Community, unter dem imaginären Dach der Gruppe und ihrer Symbolwelt zusammen. So war es im 19. Jahrhundert bei den deutschen Katholiken, denen unter dem Eindruck des Kulturkampfs und seiner Exzesse auffallend häufig die Jungfrau Maria erschien, und so ist es heute im Umkreis muslimischer Gemeinden. All das bedeutet nicht, dass Gruppen und gruppenspezifische Kulturen uniforme Phänomene mit undurchlässigen Grenzen sind. Viel wichtiger ist allerdings, dass aus dieser Einsicht, die inzwischen Allgemeingut ist, recht wenig für die eigentlich interessante Frage folgt: nämlich die Frage nach dem richtigen Umgang mit der spezifischen sozialen und politischen Realität von subjektiv empfundenen und geschätzten Gruppenzugehörigkeiten. Es ist diese Frage, die im Mittelpunkt der Debatte um den Multikulturalismus steht.
Kapitel 3
Politik und Erfahrung
Der Multikulturalismus war von Anfang an eine anwendungsorientierte und empiriegeladene Theorie oder »öffentliche Philosophie«. Das heißt aber nicht, dass sich die Idee des Multikulturalismus sozusagen selbst anwendet. Ideen realisieren sich nicht von selbst, sondern müssen in gegebenen gesellschaftlichen Umfeldern konkretisiert und plausibel gemacht werden. In Kanada ging es darum, die begrifflichen Voraussetzungen für politische Ziele zu klären, von denen einige durchaus nationaler Natur waren. So hatte die erste Generation der Multikulturalisten in Kanada nicht ein abstraktes »Babylon«, sondern den Kontext des eigenen Landes im Sinn. Charles Taylor führt den Gedanken der »Besonderheit kultureller Identitäten« im Zusammenhang mit dem »drohenden Auseinanderbrechen des Landes« (Taylor 2009: 38) ein, aus dem er stammt. Auch in anderen Kontexten gehört dieser konkrete Erfahrungsbezug zum Kern der Geschichte des Multikulturalismus. Man kann sogar
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