Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
feststellen, dass selbst der Ausdruck »Multikulturalismus« in verschiedenen regionalen Kontexten ganz Unterschiedliches bedeutet. In Deutschland, Großbritannien oder Australien bezieht sich der Ausdruck auf Einwanderergruppen, in Lateinamerika auf die indianische Urbevölkerung, in anderen Ländern auf das gesamte Feld ethnokultureller Vielfalt, und in den USA umfasst der Begriff manchmal sogar nichtethnische Minderheiten wie etwa Homosexuelle. In der theoretischen Debatte ging es zu keinem Zeitpunkt darum, zeitlose Wahrheiten aus wechselnden Kontexten zu destillieren, sondern umgekehrt darum, kontextspezifisch zu argumentieren. Daher sollen Kontexte und Erfahrungen im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen.
Ich wende mich zunächst noch einmal den Formen und Ursachen des Unbehagens am Multikulturalismus zu. Dieses Unbehagen hängt teils mit Missverständnissen der Idee des Multikulturalismus zusammen, teils mit realen Fehlentwicklungen und Misserfolgen. Missverständnisse und Misserfolge als Gründe des Unbehagens lassen sich im Prinzip durch Einsicht und Diskurs entweder zerstreuen oder produktiv wenden, es sei denn, manmöchte aus ganz anderen Gründen das gesamte Experiment einer multikulturellen Öffnung der Gesellschaft diskreditieren. Tatsächlich besteht die von unnachgiebigen Gegnern des Multikulturalismus vorgeschlagene Alternative in einer restriktiven Konstruktion von nationaler Solidarität, einer Rückkehr zur Assimilation und einer Befestigung der Grenze zwischen denen, die dazugehören, und den »Anderen«. Im Anschluss an diese Klärung diskutiere ich national unterschiedliche Antworten auf das Unbehagen in Gestalt von groß angelegten Untersuchungskommissionen und Institutionen wie zum Beispiel der Deutschen Islamkonferenz sowie eine Reihe von exemplarischen gesellschaftlichen Kontroversen um die Deutung, Implementierung, Verhinderung oder Rückgängigmachung von multikulturalistischen Maßnahmen.
Das Unbehagen in der Multikultur
Die Kritik wirft der politischen Theorie des Multikulturalismus zu Unrecht »Essentialismus« vor. Zugleich interessiert sie sich im Unterschied zu multikulturalistischen Reformern viel zu wenig für die Bedingungen, unter denen sich im Alltag Essentialisierung als kulturelle Praxis entwickelt und aus der Sicht der Subjekte bewährt. Der Alltagsessentialismus artikuliert und bewältigt ein Unbehagen, das sich aus der (Fehl-)Interpretation von Erfahrungen im gesellschaftlichen Verkehr speist. Am Beispiel des ebenso realen wie in der Phantasie wild wuchernden Phänomens von »Zwangsheiraten« in einer österreichischen Kleinstadt haben Sabine Strasser und Christa Markom (2010) in einer exemplarischen Studie die Genese von »kulturellem Unbehagen« untersucht. Sie zeigen darin, wie Bürger in ihrer vertrauten Umgebung mit Nachrichten und Gerüchten über die seltsamen Sitten und Gewohnheiten ihrer türkischen Mitbürger konfrontiert werden. Ahnungslosigkeit, mangelnder Austausch und das Desinteresse der offiziellen Politik führen mit der Zeit dazu, einer Reihe von Praktiken, die unter dem Label der Zwangsheirat versammelt werden, einen kulturellen oder gar religiösen Kern anzudichten, ethnische Grenzziehungen zu fixieren und junge türkische Ehefrauen pauschal als »Importbräute« abzuwerten. Der reaktive Kulturalismus von Teilen der türkischen Community, die nach außen eine Praxis verteidigen, der sie gar nicht unbedingt zustimmen wollen, vertieft die Gräben ein weiteres Mal. Die Autorinnen zeigen im Detail, wie Kommunikationsdefizite und Wissenslücken in den Köpfen der Beteiligten durch Phantasmen über die »Kultur der anderen« gefüllt werden. Die Schlussfolgerung lautet, dass es nicht multikulturalistische Zugeständnisse an Minderheiten sind, die zur Verhärtung und Ethnisierung von Differenzen führen, sondern im Gegenteil eine tiefsitzende Unfähigkeit im Umgang mit diesen Differenzen.
Im nächsten Akt hat die Theorie ihren Auftritt und kritisiert die Multikulturalisten für ihren vermeintlich essentialistischen Kulturbegriff. Strasser und Markom benennen die kuriose Gegenläufigkeit zwischen einer Theorieentwicklung, die auf die Globalisierung der Wissens- und Menschenströme mit der Dekonstruktion des Kulturbegriffs und der Verabschiedung des Multikulturalismus reagiert, und einer Alltagswelt, in der umgekehrt die Subjekte auf dieselben Prozesse mit der Zuschreibung von kulturellen Essenzen reagieren (vgl. ebd.: 113). Diese Zuschreibung ist nicht das
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