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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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Gemeinden um das Vertrauen scheidungswilliger weiblicher Mitglieder tatsächlich werben würden anstatt sie zu verstoßen ? Ist dies wahrscheinlicher als das Werben der katholischen Kirche um homosexuelle Gläubige? Da diese Diskussion mit Sicherheit weitergehen und auf dem Weg über Großbritannien auch auf dem europäischen Kontinent einen Widerhall finden wird, möchte ich abschließend noch einmal die Kernaussagen von Shachars multikulturellem Feminismus zusammenzufassen.
    Ausgangspunkt ist die empirische Beobachtung, dass nicht für alle, aber doch für manche Frauen die Zugehörigkeit zu ihrer partikularen Herkunftskultur oder Religionsgemeinschaft ein Wert ist, der ihnen eine Idee davon vermittelt, wer sie sind und welche Geschichte sie von sich selbst erzählen können. Für multikulturelle Feministinnen hat der daran anschließende Gedanke, dass in einer pluralen Gesellschaft einige Frauen der religiösen Rechtsprechung ihrer Herkunftsgruppe oder »Community« mehr vertrauen als den offiziellen Institutionen, dann nichts Furchterregendes, wenn die Urteile der entsprechenden Schiedsgerichte nicht in elementare Grundrechte eingreifen. Entscheidend ist hier der Ausgang von der subjektiven Bedeutungspraxis der jeweils betroffenen Frauen. Ergänzt wird dieser Gedankengang durch den Hinweis, das besonders Frauen aus diskriminierten Einwandererkulturen möglicherweise gute Gründe haben könnten, der Rechtsprechung des säkularen Staates zu misstrauen. Avigail Eisenberg hat diesen Zweifel auf den Punkt gebracht. Wenn liberale Feministinnen in der Nachfolge von Susan Okin gegen sexistische Praktiken in Einwanderermilieus sind, unterstellen sie oftmals ungeprüft, dass die bestehenden öffentlichen Institutionen die besten Hüter der Interessen von Frauen aus diesen Kulturen sind. Unter Berufung auf empirische Hinweise fragt Eisenberg, ob dies eine unbestreitbar gültige Annahme ist (Eisenberg 2010: 136; vgl. auch Rohe 2011a; Griffith-Jones 2013). Möglicherweise ist diese Annahme selbst das Ergebnis einer nicht weiter thematisierten kulturellen Konditionierung oder eines tiefsitzenden Vertrauens, das Frauen aus Minderheiten nicht immer aufbringen. Eisenberg weist zudem darauf hin, dass die jüngste Welle der öffentlichen Kritik und Demagogie gegen den Multikulturalismus keineswegs einhergegangen ist mit einer allgemeinen Tendenz zur stärkeren Gleichberechtigung von Frauen.
    Weiterhin führt der multikulturelle Feminismus wichtige begriffliche und normative Neuerungen ein. So werden nachdrücklich die innere Pluralität und der konstruierte Charakter von »Kultur« betont, deren Definition das Ergebnis von Kämpfen um das Recht ist, in ihrem Namen sprechen zu dürfen. Wichtig ist noch etwas anderes: Die innere Vielfalt zum Beispiel jüdischer oder muslimischer Gemeinschaften wird von Autorinnen wie Shachar nur eingeschränkt als intrinsisch wertvoll betrachtet; im Wesentlichen ist diese Vielfalt ein Durchgangsstadium auf dem Weg zu einer moderaten Reinterpretation religiöser Traditionen zugunsten von Frauen. In einer Linie, die bis auf Montesquieu zurückgeht, ist es diese Mäßigung der Traditionalisten und Radikalen, die den eigentlichen Zweck des Pluralismus bildet.
    Schließlich mündet der multikulturelle Feminismus in dem, was man in der Tradition von Rawls eine nichtideale politische Theorie nennt, das heißt eine Theorie darüber, welche moralisch legitimen und politisch effektiven Mittel ergriffen werden müssen, um verschachtelte Verhältnisse von Diskriminierung und Entrechtung zugunsten eines Zustands umfassender sozialer Freiheit zu überwinden. Eisenberg und Shachar sind da am überzeugendsten, wo sie zeigen, dass die liberale Hardliner-Position gegenüber den Ansprüchen traditionell gestimmter religiöser Minderheiten nicht zur Mäßigung der Haltung ihrer männlichen Repräsentanten beiträgt, sondern im Gegenteil die Situation der Frauen verschärft. Auch die Unterbindung einer ernsthaften Debatte über die formelle Einrichtung von muslimischen Schiedsgerichten in Kanada führt lediglich dazu, so das Argument, dass Formen der Entrechtung hinter dem künstlichen Schleier der Privatsphäre weiter bestehen (Shachar 2007: 145). Diesen Schleier möchte auch Shachar lüften, und zwar durch das skizzierte Experiment der Ausdehnung der Gewaltenteilung auf Teile der Judikative selbst. Der Sinn dieses Experiments besteht darin, durch intelligente institutionelle Arrangements einen Zwang zur Interaktion und

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