Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
kontinuierlichen Schaffung und Entzifferung von Bedeutungen, die von einer Vielzahl von Individuen »geteilt« werden. Diese Bedeutungen können unterschieden werden und prägen die Lebensweise von Individuen. Iris Young spricht von »modes of comportment, gestures, speech styles and other modes of communication and how people understand these in the everyday life-world« (Young 2007: 85, Fn. 32). Einige dieser Bedeutungen können dadurch herausragen, dass sie eine Vielzahl von Individuen symbolisch zu einer Gruppe vereinigen, indem sie es den Einzelnen ermöglichen, sich als Angehörige dieser Gruppe zu fühlen, was selbstverständlich andere Gruppenzugehörigkeiten nicht ausschließt. Um ein Beispiel zu geben: Dass Afro-Amerikaner fast ausnahmslos Barack Obama als Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt haben, hängt unter anderem damit zusammen, dass bis auf Weiteres ihre Hautfarbe eine solche gruppenkonstitutive, identitätsstiftende Bedeutung hat. 29 In anderen Fällen sind es andere Bedeutungsträger wie Herkunft oder bestimmte Glaubensinhalte, die dieselbe Rolle spielen.
Die bloße Feststellung, dass es solche gruppenkonstitutiven Bedeutungspraktiken gibt, ist noch nicht »essentialistisch«. Die Schwelle zum Essentialismus wird erst dann genommen, wenn drei weitere Schritte hinzukommen: (1) die Verdinglichung , das heißt die Verwechslung von Zuschreibungen mit inhärenten Eigenschaften einer Gruppe oder die Schwächung des Vermögens, Zuschreibungen als solche zu erkennen; (2) die Dichotomisierung , die ausschließt, dass Merkmale, die einer Gruppe zugeschrieben werden, auch von einer anderen Gruppe geteilt werden können; und (3) der Holismus , das heißt die Vorstellung, dass unterschiedliche Merkmale von Mitgliedern einer Gruppe eng miteinander zusammenhängen, alle Mitglieder gleichermaßen kennzeichnen und ihr dadurch eine homogene Gestalt geben. All dies sind selbst alltägliche kulturelle Praktiken – Alexander (2006: 62) spricht von »everyday essentialism« –, die nur so lange überhaupt diagnostiziert werden können, wie sie sich nicht auch noch in den Begriff der Kultur einschleichen. Ein essentialistischer Kulturbegriff wäre einer, der die Einheitlichkeit von Kulturen ebenso absolut setzt wie die Starrheit und Unüberwindlichkeit ihrer Grenzen. Nichts wäre der ursprünglichen Theorie des Multikulturalismus fremder (vgl. Kymlicka 2011).
Worauf es ankommt, ist, dem Vorwurf des kulturellen Essentialismus zu entgehen, ohne die Realität und Relevanz von ethnischen und anderen partikularistischen Gruppen zu leugnen. Die Tatsache, dass die jüdische Bevölkerung in Europa vor dem Zweiten Weltkrieg extrem heterogen war – »probably the most internally variegated people of the continent« (Wasserstein 2012: 433) –, bedeutet nicht, dass diese zehn Millionen Einzelwesen nicht eben auch jüdisch gewesen wären und sich von der übrigen Gesellschaft zumindest teilweise durch bestimmte Glaubensinhalte und Praktiken unterschieden hätten. Die Unterscheidbarkeit eines einzelnen Gegenstands geht nicht schon dadurch verloren, dass dieser Gegenstand aus allen möglichen Bestandteilen zusammengesetzt ist. Ebenso klar ist, dass man von besonderen Gruppen sprechen kann, ohne damit zu unterstellen, dass die meisten Merkmale dieser Gruppen nicht auch von den Angehörigen anderer Gruppen geteilt werden können. Auch viele Nichtmuslime lehnen es ab, Schweinefleisch zu essen, viele Christen sind beschnitten usw. Solche empirischen Kreuzungen können selbstverständlich von psychologisch befriedigenden »Alteritätserzählungen« (Tietze 2012: Kap. 11) ignoriert werden‚ die im gesellschaftlichen Verkehr kulturell pluraler Gesellschaften dabei helfen, das eigene Handeln zu legitimieren und jemanden zu finden, den man für das eigene Scheitern oder Versagen verantwortlich machen kann.
Man kann noch einen Schritt weitergehen und die Essentialisierung von Gruppen und Gruppenzugehörigkeiten, die sich zu verschiedenen Formen gruppenbezogener Feindschaft auswachsen kann, als eine jener Missachtungserfahrungen verstehen, gegen die sich die Angehörigen von ethnischen oder religiösen Minderheiten immer wieder zur Wehr setzen. Bereits im Zeitalter der Assimilation haben Juden die Rede von »den« Juden als herabsetzend und kränkend empfunden (vgl. Lang 1994). Theorie und Politik des Multikulturalismus sind daher als Reaktionsbildungen gegen den alltäglichen Essentialismus zu betrachten. Der Essentialismus
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