Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Kompromissbildung zwischen religiösen und säkularen Instanzen zu schaffen, der wiederum die Freiheitsgrade für gruppeninternen Dissens und damit die Chancen von Frauen erhöhen soll, vor Gericht Recht zu bekommen. Dieses Experiment, für das offenkundig selbst Kanada noch nicht multikulturell genug ist, hat freilich den Preis, dass ihre Verteidiger bestimmte religiös sanktionierte Diskriminierungen vorübergehend hinnehmen müssen in der Annahme, dass sich im Laufe der Zeit Frauen und andere gemäßigte Kräfte innerhalb von traditionalistischen Minderheitenkulturen durchsetzen werden. Erst dann könnten Frauen nicht anders als Männer zwanglos beides zugleich sein: kulturelle Wesen und Träger von Rechten.
Wie real sind Gruppen und Kulturen?
Wie bereits Montesquieu in seinen Persischen Briefen , identifiziert der akademische Feminismus unterdrückte Frauen als Störfaktoren bei der Herstellung harmonischer Kulturbilder durch männliche Repräsentanten. Der Feminismus wirkt dadurch wie ein kritisches Säurebad, in dem vermeintlich kompakte Einheiten wie »Kulturen«, »Gruppen« und »Identitäten« in kleinteiligere und flexiblere Bestandteile zersetzt werden. In dieser Zersetzungsarbeit besteht seine übergreifende Bedeutung für Geschichte und Begriff des Multikulturalismus. Daraus können sich allerdings, wie ich gezeigt habe, zwei ganz unterschiedliche Konsequenzen ergeben. Eine Konsequenz kann sein, dass die moralische Relevanz von Gruppenzugehörigkeiten pauschal bestritten und allein das Individuum als Bezugsgröße jeder normativen Reflexion akzeptiert wird. Diese Konsequenz wiederum führt letztlich zur Ablehnung jedes Multikulturalismus zugunsten einer Politik, die alle Fragen, die in der Debatte um diesen Begriff aufgeworfen wurden, mit dem Hinweis auf klassische Bürgerrechte und konventionelle Sozialpolitik erledigt. Eine Alternative besteht darin, weiterhin von Gruppen und Kulturen zu sprechen, ohne jedoch die homogenisierenden und essentialistischen Implikationen zu akzeptieren, die diesen Begriffen im normalen Sprachgebrauch oftmals anhaften. Der substantivische Gebrauch von »Kultur« ist oft vage, fördert die Bildung von Stereotypen, suggeriert eine Tiefe und Festigkeit von Bindungen, die es vielleicht gar nicht gibt, und führt zu einer Überdramatisierung von Differenzen zwischen Gruppen und einer Ausblendung von Differenzen innerhalb von Gruppen. Gleichwohl bleibt »Kultur«, verstanden als Bündel von sozialen Bedeutungspraktiken ( meaning making ), ein unverzichtbarer Begriff.
Meine Sorge ist daher, dass theoretisch radikal anmutende Begriffsstrategien der Dekonstruktion des Kulturbegriffs die paradoxe Folge haben könnten, politisch einfallslose und konservative Umgangsformen mit dem realen Problem wachsender kultureller Vielfalt in modernen Gesellschaften zu begünstigen. Zumindest verwickeln sich Kritiker des Multikulturalismus, die gleichwohl für eine Stärkung von Minderheiten in der Gesellschaft und ihren Institutionen eintreten, in Widersprüche. So ist die These von Terkessides (2010: 125), dass es »Angehörige von Minderheitenkulturen« gar nicht gibt, zumindest zweideutig. Man kann den Satz wohlwollend so verstehen, dass Personen, ohne gefragt zu werden, nicht durch ihre Herkunft definiert werden sollen. Nicht jeder, der in einem Stall geboren wurde, istdarum schon ein Pferd, soll der aus Irland stammende Duke of Wellington, der kein Ire sein wollte, gesagt haben. Die gedankenlose Einsortierung von Individuen in administrativ stillgestellte Gruppenkategorien durch externe Beobacher oder selbsternannte Sprecher ist ein weitverbreitetes moralisches Übel. Terkessides’ These kann aber auch bedeuten, wie es die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher einmal ausgedrückt hat, dass es so etwas wie »Gesellschaft« gar nicht gibt und nur das »Individuum« und seine engsten Kreise real sind. Diese Haltung erfordert allerdings, vom kollektiven Hintergrund jedes einzelnen Individuums im Alltag einschließlich der Einstellungspraxis von Institutionen zu abstrahieren anstatt, wie Terkessides zu Recht fordert, »Personen nichtdeutscher Herkunft« (ebd.: 146) stärker und gezielt zu berücksichtigen . Wenn es keine »Angehörige von Minderheitenkulturen« gibt, kann man sie auch nicht fördern. Mir scheint, dass in diesem Argument das Verhältnis von (a) Individuen, (b) Gruppen, die durch ein kulturelles oder religiöses Zusammengehörigkeitsgefühl verbunden sind, und
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