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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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(c) Gruppen, die nur als bürokratische Sammelbezeichnung von Individuen existieren (»Personen nichtdeutscher Herkunft«), undeutlich bleibt.
    Um hier weiterzukommen, schlage ich vor, zuerst an die Anstrengungen in der Ethnologie und Soziologie der vergangenen Jahrzehnte zu erinnern, die darauf zielen, die holistischen und objektivistischen Kulturkonzepte loszuwerden, die von denselben Disziplinen zuvor in der Welt gesetzt worden waren. Die Kulturanthropologin Gisela Welz (1996a) hat eine ganze Reihe älterer Vorstellungen aufgelistet, die als theoretisch überholt gelten. So denkt man heute nicht mehr, dass sich die Angehörigen von kulturellen Gruppen andersartig fühlen, weil es objektive kulturelle Unterschiede tatsächlich gibt. Das kollektive Sich-anders-Fühlen ist vielmehr das Resultat von erfolgreichen Bedeutungspraktiken, die bestimmte Merkmale der eigenen und der Fremdgruppe als Zeichen eines realen Gegensatzes deuten. Ebenso gilt die Vorstellung einer Deckungsgleichheit von territorialen Räumen, Kulturen und Gruppen als überholt. Nicht anders steht es um überzogene Kohärenzvorstellungen von Kulturen, die blind sind für die interne Vielfalt und den umstrittenen Charakter dessen, was als die verbindliche Kultur einer Gruppe akzeptiert wird. Schließlich ist die lange Zeit gängige Idee, dass Gruppen nur passive Gefäße oder »Träger« von kulturellen Denk- und Verhaltensstrukturen seien, korrigiert worden durch den Hinweis auf die Kreativität der Angehörigen dieser Gruppen im Umgang mit Traditionen. Das Bewusstsein für all diese Inkongruenzen, Inkonsistenzen und Instabilitäten von Gruppen und Kulturen ist freilich nur unvollständig in die Alltagssprache eingewandert. So ist immer noch die Rede von »den« Muslimen, Türken oder Deutschen, von der »Kultur« dieser vermeintlich homogenen Kollektive oder sogar von den »Kulturkreisen«, aus denen Menschen kommen.
    Auch ein Teil der Kritik am Multikulturalismus bleibt in dieser Alltagssprache befangen. So argumentiert Necla Kelek gegen Claus Leggewie, dass dieser über Muslime spreche, ohne die Frage zu stellen, »was der Islam ist, was er will« (Kelek 2012: 80) – so als sei der Islam eine Art ideologische Software, die unsichtbar das Verhalten der Muslime steuert. Andere Kritiker werfen umgekehrt den Verteidigern des Multikulturalismus vor, selbst in der Alltagssprache befangen zu sein und den theoretischen Fortschritten in den Kulturwissenschaften nachzuhinken. Kritisiert wird der Kulturbegriff der Multikulturalisten, weil er angeblich bestimmte Unterstellungen mache: dass Kultur die normativen Erwartungen, Handlungen und Emotionen ihrer Mitglieder programmiere ; dass sie von ganzen Gruppen geteilt werde; dass sie als solche anerkennungswürdig sei; und dass sie räumlich gebunden sei in dem Sinne, wie man sagt, dass Migranten »aus« einer Kultur kommen oder »in ihr« zu Hause sind. Im Gegensatz zu diesen Formeln warnen die Kritiker, dass man Kulturen »nicht zu geschlossenen Ganzheiten reifizieren« (Habermas 2005c: 307, Fn. 40) dürfe. Dieses Motiv der Verdinglichung oder des Essentialismus steht im Zentrum der Kritik an der »ersten Welle« des Multikulturalismus. Sie wird inzwischen auch von deren Vertretern selbst akzeptiert, die sich beeilen, das Denken in unteilbaren Gruppen ( groupism ) abzulehnen, und darauf bestehen, dass es eine »Vielfalt in der Vielfalt« gebe (Leggewie und Zifonun 2011: 220f.; Leggewie 2011b: 26; Vertovec 2011).
    Die erste Frage, die sich aus der Kritik der neueren Ethnologie und Soziologie ergibt, lautet, wen diese Kritik eigentlich trifft? Zwar findet man in den von mir dargestellten Theorien von Taylor, Tully und Kymlicka (ebenso wie gelegentlich bei mir selbst im vorliegenden Buch) Formulierungen wie die, dass Menschen »aus« bestimmten Kulturen kommen oder »in« sie hineinwachsen. Aber bei solchen Raummetaphern handelt es sich um bloße sprachliche Konventionen. Taylor hat durch seine missverständliche Bezugnahme auf Herder gelegentlich den falschen Eindruck erweckt, als gäbe es von der Subjektivität der Beteiligten unabhängige, objektiv schützenswerte Traditionen. Dabei rückt seine Theorie ausdrücklich das Individuum mit seinen geerbten und gewählten Bindungen in den Mittelpunkt. Es ist gerade die »Idee einer innerlich erzeugten Identität«, die Taylor (2009: 21) in seinem Multikulturalismus-Essay zum Ausgangspunkt der Reflexion macht. »Jeder muß mit einem anderen Maßstab gemessen

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