Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Ergebnis der Aneignung einer falschen Theorie, sondern das Resultat der fatalen empirischen Dynamik von Grenzziehungen zwischen Bevölkerungsgruppen unter den Bedingungen fehlenden Wissens, eingeschränkter Partizipationschancen und einer unbedarften oder überforderten politischen Führung.
Dort, wo die Kritik etwas trifft, richtet sie sich gegen den offiziellen Multikulturalismus und die schöne neue Welt kommerziell und administrativ inszenierter Pluralität. Dieser falsche Pluralismus beruht tatsächlich auf der entmündigenden Fiktion homogener Gruppen, die multikulturelle Politikprogramme in der Vergangenheit gelegentlich verbreitet haben. Gisela Welz berichtet aus der Frühzeit des Amts für Multikulturelle Angelegenheiten in Frankfurt am Main, wie Migrantengruppen mittels der Speisen und Feste ihrer Herkunftsregionen identifiziert und als »geschlossen und einheitlich« vorgestellt wurden. Dies sei nicht nur dem Nachwirken fragwürdiger anthropologischer Theorien zuzuschreiben, sondern auch dem strukturellen Charakter von Bürokratien, die nicht anders könnten als Bevölkerungen ohne Rücksicht auf deren interne Komplexität in säuberlich getrennte Menschensorten einzuteilen (Welz 1996b: 199, 201). Dies scheint eine wiederkehrende Erfahrung zu sein. Ein anderes Beispiel ist das Londoner Kunstmuseum Tate Britain, das sich jahrelang bemühte, im Einklang mit der Politik der Regierung seine Ausstellungspraxis an den mutmaßlichen Bedürfnissen einer zunehmend multiethnischen Bevölkerung auszurichten, deren Minderheiten unter dem bürokratischen Kürzel »black and minority ethnic« (BME) zusammengefasst werden. Das Museum musste jedoch die Erfahrung machen, dass sich die so Angerufenen verkannt und teilweise geradezu missachtet fühlten (Dewdney et al. 2012). Dies sind Beispiele für jenen kulturellen Artenschutz, den Habermas moniert hat, also für die V erkehrung des Selbsterhaltungswunsches kultureller Gruppen in eine administrative Norm. Die Idee des Multikulturalismus – Respektierung von subjektiven Gruppenzugehörigkeiten – wird in solchen Situationen zum Opfer ihrer eigenen Institutionalisierung.
In Anlehnung an Freud kann man diesen Gedanken auch so ausdrücken: Das liberale Unbehagen entsteht aus einem Kultur-Über-Ich, das zwar nicht mehr national und singular, sondern subnational und plural ist, aber darum nicht weniger als Identitätsschmiede auf Gruppen einwirkt und deren interne Vielfalt und Variabilität unterdrückt oder ignoriert. Überhaupt funktioniert der öffentliche Diskurs auf eine für liberale Instinkte beunruhigende Weise. Die kommunikativen Institutionen der Gesellschaft fabrizieren mediale Schemen oder Larven (aus dem Lateinischen larva , »Maske« oder »Gespenst«), die abgelöst von realen Personen ein Eigenleben führen. Mehr noch: Diese Schemen wandern in den realen gesellschaftlichen Kommunikationsprozess ein und sorgen dafür, dass lebende Personen zu »Muslimen« oder »Deutschen« werden und in diesen Zuschreibungen verschwinden. Wirkliche Menschen werden gleichsam von ihren eigenen, künstlich erzeugten Abziehbildern verschluckt.
Bei dieser Art von Kritik geht es darum, dass dem offiziellen Multikulturalismus das Verfehlen richtiger Ziele vorgeworfen wird. Davon zu unterscheiden ist der Vorwurf falscher Ziele. Viele Kommentatoren finden intuitiv das Ziel falsch, dass nicht Einzelne, sondern partikulare Gruppen innerhalb des Staates (Minderheiten) oder auf dem Weg von einem Staat in einen anderen (Migranten) in den Genuss einer besonderen Aufmerksamkeit, Anerkennung oder Wertschätzung kommen sollen. Diese Kritik gibt es in einer konservativen und einer liberalen Variante. Konservative finden, dass der Multikulturalismus illiberale, aber gleichwohl legitime Normen außer Kraft setzt oder ihre Verwirklichung blockiert, zum Beispiel die Einheit der Nation. Der Klassiker dieser Art von Kritik ist Arthur M. Schlesingers The Disuniting of America (1991). Liberale meinen dagegen, dass der Multikulturalismus liberale Gleichheitsnormen außer Kraft setzt oder ihre Verwirklichung vereitelt. Die konservative Kritik mag berechtigt sein oder auch nicht, sie verfehlt in jedem Fall die Intention zumindest der kanadischen Multikulturalisten, denen es gerade um die Bewahrung der Einheit ihres Landes geht. Das konservative Unbehagen ist ambivalent, weil häufig nicht deutlich wird, ob das Ziel die Einheit der politischen Gemeinschaft ist – im Gegensatz zu ihrem Auseinanderfallen
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