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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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in gegeneinander verschanzte Subkulturen – oder aber die Assimilation von Migranten und Minderheiten an eine imaginierteStammbevölkerung. Das erste Ziel ist mit den Grundsätzen einer liberalen politischen Theorie vereinbar, nicht jedoch das zweite.
    Ob einzelne multikulturalistische Maßnahmen und Programme zur Verhinderung oder Überwindung von Segregation und sozialer Spaltung erfolgreich sind, ist eine empirische Frage, die uns an dieser Stelle nicht interessiert. Indizien sprechen dafür, dass etwa Quotenregelungen, wie es sie im amerikanischen Bildungssystem für aufstiegsorientierte Bewerber aus bestimmten Bevölkerungsgruppen gibt, durchaus gemischte Konsequenzen für die vermeintlich Bevorzugten haben (vgl. Sander und Taylor 2012). Ebenso zeigen empirische Untersuchungen, dass als multikulturell ausgewiesene Maßnahmen die Segregation der Bevölkerung verstärken, kulturelle Differenzen überdramatisieren oder Freundschaften und Ehen zwischen Einwanderern und Einheimischen erschweren können (vgl. Koopmans 2011). Diese negativen Folgen können allerdings auch durch eine entgegengesetzte Politik bewirkt werden. Auch das Streben nach Überintegration führt zu Desintegration. In vielen Fällen sind es gerade assimilatorische Zwänge, die neue Kategorien von Nichtassimilierbaren schaffen und zugleich bei den Assimilierten das Gefühl hervorrufen, nicht hinreichend assimiliert zu sein. Auch die Assimilierten und Erfolgreichen entkommen nicht der Erfahrung des Fremdseins (vgl. Spielhaus 2011; Sutterlüty 2010). Ein Teil des konservativen Unbehagens beruht auf der Vorstellung, der Multikulturalismus sei ein verkappter Separatismus oder eine Verteidigung des Gruppenegoismus. Der größere Teil dieses Unbehagens rührt freilich daher, dass sich manche Konservative schwer tun, die Vorstellung einer verbindlichen und wohldefinierten Leitkultur fallenzulassen: einer Leitkultur, von der oft ganz zu Unrecht behauptet wird, sie werde von einer einheimischen Stammbevölkerung tatsächlich vorgelebt.
Kommissionen, Komitees und Konferenzen
    Regierungen haben nach der Jahrtausendwende auf das Unbehagen in der Multikultur reagiert, indem sie neue Institutionen geschaffen haben, die der Selbstreflexion und der Einführung neuer Regeln des Zusammenlebens unter den Bedingungen wachsender kultureller Vielfalt dienen sollen. Vier Einrichtungen dieser Art sind zu nennen: die französische »Commission de réflexion sur l’application du principe de laïcité«, nach ihrem VorsitzendenBernard Stasi kurz Commission Stasi genannt (2003), die Deutsche Islamkonferenz (DIK), deren erste Phase von 2006 bis 2009 dauerte und die seit 2010 in eine zweite Phase eingetreten ist, das vom indischen Premierminister ins Leben gerufene »Committee on the Social, Economic and Educational Status of the Muslim Community of India« (Sachar Committee) (2005–2006) sowie die von der Regierung der kanadischen Provinz Quebec gegründete »Consultation Commission on Accommodation Practices Related to Cultural Differences« unter dem Vorsitz des Philosophen Charles Taylor und des Soziologen Gérard Bouchard (Bouchard-Taylor-Kommission) (2007–2008). Aufbau, Funktionsweise und Mandat dieser Institutionen verraten viel über das Selbstverständnis der jeweiligen Staaten und legen eine vergleichende Untersuchung nahe. Ich beschränke mich allerdings auf einen einzigen Punkt: Die aufgelisteten Institutionen zeigen uns, dass der Umgang mit kultureller Vielfalt selbst vielfältig ist und es auf diesem Gebiet keine selbstverständliche politische Konvergenz zwischen Ländern und Kontinenten gibt. Die ersten drei Fälle werde ich kursorisch behandeln, weil sie aus meiner Sicht entweder keinen nennenswerten Beitrag zu einem innovativen und normativ anspruchsvollen Umgang mit kultureller oder religiöser Vielfalt geleistet haben (die französischen und deutschen Beispiele) oder sich auf eine Gesellschaft beziehen, die in einem ganz anderen Sinne als westliche Gesellschaften »multikulturell« ist oder sein will (das indische Beispiel). Etwas ausführlicher werde ich dagegen auf die kanadische Kommission eingehen, nicht zuletzt deshalb, weil sie von Taylor selbst mit geleitet worden ist und neue Konzepte in die Debatte eingeführt hat.
    1. Die französische Commission Stasi und ihre Empfehlungen sind vor allem interessant als Kontrastfolie, von der sich jeder künftige Entwurf einer kulturell pluralen Gesellschaft deutlich abheben wird. Dies gilt, obwohl der

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