Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
ungeschriebenen Gesetzen liegen, die das alltägliche Zusammenleben regeln, lässt sich ihre Übernahme nicht von oben anordnen. Sie erfordert vielmehr die freiwillige Mitwirkung der Muslime. Aus dieser Orientierung am Ideal eines umfassenden alltagspraktischen Konsenses ergeben sich drei wesentliche Unterschiede zur französischen Kommission:
Erstens zieht das deutsche Innenministerium die Form des Dialogs vor, während die französische Regierungskommission ihre Handlungsempfehlungen aus einem einzigen heiligen Prinzip deduziert . Daraus ergibt sich, dass das deutsche Modell auf einer viel umfassenderen Beteiligung von zahlreichen Verbänden und Einzelpersonen aus unterschiedlichen Feldern beruht. Allerdings ist der deutsche Dialog mit den Muslimen asymmetrisch, weil nur die Muslime sich erklären sollen, während die kulturellen Orientierungen der Mehrheit außer Frage stehen. Tezcan geht noch einen Schritt weiter. Das Ziel der DIK sei es, in einem Prozess der gezielten Ansprache und Befragung eine bestimmte Subjektposition überhaupt erst herzustellen. Das Ziel ist, mit anderen Worten, die Formierung »deutscher Muslime«, die sich als religiöse und nationale Subjekte von Fundamentalismus und Terrorismus distanzieren.
Zweitens tritt an die Stelle des Ideals monokultureller Homogenisierung das Ziel der Hierarchisierung von kulturellen Werten und Normen. Die Formel von der »Leitkultur« leugnet nicht die Existenz einer Multikultur, sondern setzt sie voraus. Leitkultur bedeutet die hierarchische Strukturierung des kulturellen Feldes nach Maßgabe nicht näher spezifizierter Normen der Mehrheitsgesellschaft. Diese Normen erlauben nicht nur die Identifikation abweichender Minderheiten, sondern erregen das öffentliche Interesse für Zeichen der Abweichung. 30
Drittens weist Tezcan darauf hin, dass die DIK ähnlich wie ihre französische Vorgängerin die Schule zum bevorzugten Schlachtfeld der Kulturen erklärt hat. Allerdings vermeiden es die Deutschen einschließlich der deutschen Muslime im Unterschied zu den Franzosen, den alltäglichen »Kleinkrieg« um Mensa-Essen, Klassenfahrten, das Schimpfwort »Christ« oder den gemeinsamen Schwimmunterricht mit muslimischen Mädchen als Symptom oder Vorboten eines »großen Kulturkampfs« (ebd.: 167) à la Bismarck oder Huntington zu deuten.
3. Auch Indien wird im Abschlussbericht der Sachar Untersuchungskommission zur Lage der Muslime eine »multikulturelle Gesellschaft« genannt (Sachar Committee 2006: 187). Diese Selbstbeschreibung ändert nichts daran, dass postkoloniale Gesellschaften wie die indische in der westlichen Multikulturalismus-Debatte kaum Aufmerksamkeit finden. Neben dem schlechten Grund der eurozentrischen Blickverengung gibt es dafür auch einen guten Grund. Viele postkoloniale Gesellschaften haben nämlich den nationalstaatlichen Assimilationsschub übersprungen, der die euro-amerikanischen Gesellschaften zutiefst geprägt hat. Damit entfällt der schmerzliche Erfahrungshintergrund, der in diesen Gesellschaften die Suche nach alternativen, »multikulturellen« Formen der Inkorporierung von ethnischen Minderheiten und Migranten motiviert.
Die indische Kommission verdient gleichwohl Beachtung, weil es interessante Parallelen und Differenzen zu den deutschen und französischen Institutionen gibt. Die auffälligste Parallele ist zunächst, dass auch die indische Regierung auf ein öffentliches Unbehagen angesichts der kulturellen Vielfalt des Landes und insbesondere der starken muslimischen Präsenz reagiert. Wie auch anderswo mischt sich die Sorge um die innere Sicherheit, die von radikalen Islamisten gefährdet wird, mit dem Motiv einer gruppenbezogenen Feindschaft, die ihrerseits für die betroffenen Muslime ein erhebliches Sicherheitsrisiko bedeutet. Diese gruppenbezogene Feindschaft unterscheidet sich nicht grundsätzlich von dem, was wir aus Europa kennen. So heißt es im Bericht des Sachar Committee ausdrücklich:
»One of the major issues around the question of identity for Indian Muslims is about being identified as ›a Muslim‹ in public spaces. Being identified as a Muslim is considered to be problematic for many. Markers of Muslim identity – the burqa , the purdah , the beard and the topi – while adding to the distinctiveness of Indian Muslims have been a cause of concern for them in the public realm. These markers have very often been a target for ridiculing the community as well as of looking upon them with suspicion. Muslim men
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