Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
Vom Netzwerk:
Typisch ist die Meinung des Lesers »Goofy«, der am 27. Juni in der Online-Ausgabe der SZ kommentierte: »Im Rahmen der zunehmenden Orientalisierung Europas sollten alle Arten von atavistischer Körperverstümmelung vor den Grenzen abgelegt werden. Hände abhacken, Steinigung und An-dem-Penis-Herumschneiden sollten verboten bleiben.« Die große Mehrheit der im Netz aktiven deutschen Zeitungsleser war sich gleich nach dem Kölner Urteil ganz sicher, dass das Beschneidungsritual illegal ist und dem Grundgesetz widerspricht. Für den Leser »Taktik2« der SZ vom 27. Juni 2012 folgt daraus: »In der Tat, wer den hiesigen Gesetzen keine Folge leisten will, sollte seine Sachen packen.« Dies war der Tenor einer Vielzahl von Kommentaren: Wer nicht in unsere Zeit gehört, gehört auch nicht in unser Land. 34
    Hier noch ein letztes Zitat aus einem Online-Kommentar von Andreas Raab vom 29. September in der FAZ : »Man stelle sich nur einmal vor, dass ein solches archaisches und brutales Ritual gegen wehrlose Säuglinge und Kinder ausschließlich von einer Sekte oder von fundamentalistischen Islamisten eingefordert würde.« Mit dieser Formulierung wird bereits angedeutet, dass die Juden in den Mittelpunkt der Kontroverse gerückt waren, und dass Muslime, wenn sie alleine gewesen wären, keine Chance gehabt hätten, in der deutschen Öffentlichkeit Gehör zu finden. Ähnlich wie zehn Jahre zuvor in der Kontroverse um das Schächten von Tieren wurde die deutsche Politik durch die »Allgegenwart des jüdischen Narrativs in der nationalen Selbstbeschreibung der Deutschen« (Bodemann und Yurdakul 2009: 213) daran gehindert, gegen eine muslimische Praxis vorzugehen, die auch von Juden geteilt wird.
    Während die Muslime und besonders die Türken in der doppelten Buchführung des antimultikulturellen Kulturkampfs die meisten Einträge auf derSoll-Seite haben, wird umgekehrt den deutschen Juden vieles auf der Haben-Seite gutgeschrieben. Mehr noch: Den Muslimen wird die historische jüdische Integration in die deutsche Gesellschaft nachdrücklich als ein Ideal vorgehalten, wie Bodemann und Yurdakul (ebd.: 210) zeigen. Einige Beiträge zur Beschneidungsdebatte haben – durchaus konsequent – versucht, die Juden angesichts eines ähnlichen Rituals ebenfalls mit dem Barbarei-Vorwurf zu kontaminieren. Diese Stimmen konnten sich jedoch nicht durchsetzen. Der Grund ist, dass »Barbarei« in der kollektiven Psyche der Deutschen eng mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust verknüpft ist und nicht beliebig auf andere Erfahrungen von Leid übertragen werden kann (Heins 2012b; 2012c). Ausgerechnet den Akt der Beschneidung, durch den Jungen symbolisch in die jüdische Gemeinschaft aufgenommen werden, als barbarisch zu bezeichnen und zu behandeln, wirft daher ein Problem auf.
    Die sozialdemokratische Abgeordnete Marlene Rupprecht, die sich während der Verhandlungen im Bundestag für ein Verbot der Beschneidung aussprach, löste dieses Problem, indem sie eine Assoziationskette herstellte zwischen Beschneidung und Holocaust. »Ich möchte nicht, dass Deutschland in die Geschichte eingeht als das Land, das Körperverletzung an wehrlosen Kindern legalisiert wegen irgendwelcher Bibelstellen und Tausende von Jahren alten Traditionen. Der Respekt vor dem Leben – das ist doch unsere Lektion aus der Nazizeit!« (zit. nach Lau 2012). In dieser Aussage wird zum einen den Juden ein Mangel an »Respekt vor dem Leben« vorgeworfen, der schon die Nazizeit kennzeichnete, und zum anderen die Bereitschaft, eine zentrale jüdische Glaubenspraxis zu verbieten, als Indiz demokratischer Reife dargestellt. Das Zitat deutet eine imaginäre Konstellation von Nationalsozialisten, Juden und Deutschen an und geht einher mit der Zuschreibung unterschiedlicher moralischer Lernerfolge bei Juden und nichtjüdischen Deutschen. Zugleich wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen der Beschneidungsdebatte und dem Platz Deutschlands in der »Geschichte«.
    Interessant ist das Zitat auch deshalb, weil es zeigt, dass es im Gesetzgebungsverfahren schon längst nicht mehr um die Muslime ging, sondern nur darum, ob die »Deutschen« gegenüber den »Juden« als Kräfte der Zivilisierung auftreten und jüdische Rituale unter Strafe stellen sollen. Ein solcher symbolischer Schritt wurde von der Regierung und der Parlamentsmehrheit abgelehnt. Das Resultat ist, dass die Muslime in Deutschland sozusagen im Schlepptau der jüdischen Gemeinden ihr Recht auf freie Religionsausübung

Weitere Kostenlose Bücher