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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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Bedeutungspraxis genommen wurden, die den Akt der Beschneidung in ein Zeichen für die Grenze umdeutete zwischen denen, die rational, sensibel und gesetzestreu sind und den anderen, die dies eben nicht sind, und (2) der Umstand, dass das Ritual der männlichen Beschneidung sowohl für Muslime als auch für Juden verbindlich ist, beide Gruppen aber in der Vorstellungswelt der übrigen Deutschen völlig unterschiedliche Plätze einnehmen.
    In der Süddeutschen Zeitung (SZ) bezeichnete der Rechtswissenschaftler Reinhard Merkel (2012), ein prominentes Mitglied des Deutschen Ethikrates, das Ritual als »barbarisch«. In derselben Zeitung sprach der Psychologe Wolfgang Schmidbauer (2012) von Kindern als unschuldigen »Opfern« und »Traumatisierten«, die vor dem »Angreifer« aus den eigenen Reihen geschützt werden müssten. In der FAZ schließlich wurden Muslime von VolkerZastrow (2012) darüber belehrt, dass ihre grausamen Praktiken, wie man an Moorleichen im Nordwesten Deutschlands festgestellt habe, aus der »Steinzeit« stammten und folglich aus der modernen Gesellschaft zu verbannen seien. Die Beschneidungsdebatte wurde auf diese Weise zu einem weiteren Schlachtfeld dessen, was Levent Tezcan den permanenten »Kleinkrieg« zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in Deutschland nennt (Tezcan 2012: 167). Auch dieser Kleinkrieg nahm Züge eines Kulturkampfes an in dem Sinne, dass von den Kritikern des Rituals alle relevanten Informationen mithilfe des Kriteriums zivilisiert/barbarisch sortiert und dargestellt wurden.
    Da nun allerdings Juden ebenfalls das Beschneidungsritual kennen, fühlten sie sich von der Ausbürgerung der Beschnittenen aus der Gemeinschaft der Zivilisierten mit angesprochen. In dem konkreten Fall, über den das Kölner Landgericht zu befinden hatte, ging es zunächst um einen muslimischen Jungen und einen ebenfalls muslimischen Arzt. In Medienberichten wurde aber immer wieder gerne das abgebildet, was man im Jiddischen das »mohel messer« des jüdischen Beschneiders nennt. Entsprechend heftig waren die Reaktionen, die darin gipfelten, dass Charlotte Knobloch (2012), die ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, mit großer Bitterkeit ihren Eindruck formulierte, dass Juden in Deutschland nicht willkommen seien. Ähnlich äußerten sich europäische Rabbis sowie der Harvard-Professor Alan Dershowitz (2012), der den Kölner Richtern und den rechten und linken Kritikern der Beschneidungspraxis »Antisemitismus« vorwarf. Auch wenn dieser Vorwurf in seiner Pauschalität unhaltbar ist, überrascht es nicht, dass die Reaktion der deutschen politischen Öffentlichkeit für viele etwas Erschreckendes hatte. Wie zur Zeit der Weimarer Republik, als die Nationalsozialisten »Beschneidung« als rhetorische Figur und Synonym für Degeneration in ihren Kulturkampf einführten (vgl. Dennis 2012: Kap. 14), schien es auch diesmal um mehr zu gehen als um Vorhäute. Reinhard Merkel hatte mit dem Topos des Barbarischen, der in dieser Schärfe selbst in der Geschichte der christlichen Judenfeindschaft nicht vorkommt (vgl. Heil 2012: 35), das Stichwort gegeben, das von zahlreichen Ärzten, Juristen und Publizisten aufgegriffen wurde.
    In Internetforen und den Online-Leserkommentaren der großen Tageszeitungen wurde zudem ausgesprochen, was man sich in den Verbänden und politischen Parteien nicht zu sagen traute. In liberalen ebenso wie in konservativen Blättern wurde das Beschneidungsritual von der überwältigenden Mehrheit der Leser mit den Attributen der Willkür, des Fanatismus und des Abstoßenden belegt. Interessant ist dabei vor allem, wie in diesem Sektorder Öffentlichkeit Muslime und Juden vermischt und mit derselben Geste als fremdartig klassifiziert wurden. Eine Übergangsregelung des Berliner Senats kommentierte etwa der Leser Diethard Manzer in der FAZ vom 6. September 2012 wie folgt: »In Frankreich und Belgien geht man inzwischen konsequent (z.B. durch das Verschleierungsverbot) gegen die Infiltration durch den Islam vor, und bei uns gibt es einen Justizsenator, der Ausnahmen vom Grundgesetz fordert. Trotz unserer belastenden Geschichte sollten wir auch den jüdischen Bürgern verdeutlichen, dass solche archaischen Methoden nicht mehr in unsere Zeit gehören.« Während die Vermischung und Verwechslung von Juden und Muslimen ein Motiv vieler Kommentare war, schieden sich die Geister an der Frage, ob man eher für Assimilation oder für die Ausweisung der Fremden plädieren sollte.

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