Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
und dem Einzelgänger Salman Rushdie ging, der selbst Muslim ist – ein Muslim, der seinen eigenen Migrationshintergrund immer wieder zu einem Vordergrund gemacht hat. 39 Der Streit kann als ein Kampf um Anerkennung und gegen die vermeintliche Arroganz des Liberalismus gelesen werden, aber auch als ein Kampf um die Konstruktion einer muslimischen Gruppenidentität, die internen Dissens als »cultural betrayal« brandmarkt, wie Shachar (2001: 61) sagt. Ein Nachgeben in Konflikten dieses Typs könnte zur Verknöcherung der Gruppenidentität von Minderheiten beitragen und ihre marginale Stellung in der Gesellschaft zementieren.
Auch hier hat Modood inzwischen seine ältere Analyse der inneren Vielfalt des muslimischen Protests gegen Rushdie vorsichtig weitergesponnen. In neueren Texten spricht er ausdrücklich davon, dass es nicht »die« Muslime, sondern »gewisse« Muslime waren, die »die Lebenslagen, Gefühle und die Unwissenheit anderer Muslime ausgebeutet haben« (Modood 2013: 219). Daraus zieht er aber nur den Schluss, dass die Anlässe für diese Form der Ausbeutung beseitigt werden müssen. Andere Schlüsse könnten sein, erstens, bei der nächsten Gelegenheit nicht (nur) Künstler, sondern (auch) jene »gewissen« Personen als Hassredner anzuklagen, sofern sie, wie in England in Einzelfällen geschehen, zu Mord und Totschlag aufrufen, sowie zweitens, sich auch unter Muslimen für die Begründung einer Tradition der Abtrünnigkeit einzusetzen, wie sie exemplarisch das Judentum kultiviert hat (vgl. Deutscher 1991).
5. Während ich gegen Modood argumentiere, dass Kränkungsgefühle keine Gesetzeskraft haben und es wenig plausibel ist, ganze Gruppen mit einem jeweils spezifischen Kränkbarkeits-Index zu versehen, gebe ich zu, dass Multikulturalisten zu diesem Thema mehr sagen müssen. Seit Taylor richtet die politische Theorie des Multikulturalismus ihr Augenmerk auf die Folgen, die wiederkehrende Missachtungserfahrungen für das Selbstbewusstsein und die Autonomie der Betroffenen haben können. Diese Missachtungserfahrungen sind auch dann ernst zu nehmen, wenn sie vor dem Hintergrund problematischer Erwartungen dessen gemacht werden, was anerkannt werden sollte. 40 Der klassische Liberalismus, etwa Kants, begründet die Redefreiheit aus dem Prinzip der Hörerautonomie. Frei sind alle Äußerungen, bei denen es den Hörern überlassen bleibt, sie zu akeptieren oder abzulehnen (Niesen 1980: 76f.). Diese Bestimmung klammert allerdings die Friktionen aus, die sich in realen Gesellschaften aus der Intensität der Leidenschaften ergeben, mit der Äußerungen vorgebracht, akzeptiert oder abgelehnt werden. Weniger rationalistische Liberale wie David Hume haben daher vorgeschlagen, einerseits den Geschmack zu bilden und zu verfeinern, andererseits das Publikum durch Erziehung robuster und gelassener zu machen angesichts von Äußerungen, die auf Anhieb deplatziert, ignorant oder beleidigend wirken. Aus der Sicht Modoods mangelte es Rushdie an dem, was Hume »delicacy of taste« nennt; aus der Sicht der Verteidiger Rushdies litten einige allzu reizbare Muslime an einer beklagenswerten »delicacy of passion«, von der wiederum Hume (1998: 11) sagt, sie müsse, wo immer möglich, kuriert werden. Unter den Bedingungen tiefer Differenzen in kulturell pluralen Gesellschaften sind allerdings auch die Grenzen der Möglichkeit ästhetischer Erziehung irgendwann erreicht.
An diesem Punkt muss die Suche nach einem Modus Vivendi beginnen, der das friedliche Zusammenleben auch ohne Konsens ermöglicht. Wenn es zutrifft, dass Redefreiheit niemals grenzenlos ist, so bleibt doch offen, wodurch Redefreiheit je nach Situation eingeschränkt oder konditioniert wird. Die erwähnte Kontroverse um das Theaterstück von Fassbinder hat gezeigt, dass der Protest und die freie Rede derer, die sich verletzt fühlen, einen neuen Kontext und neue Perspektiven schaffen können, unter denen das jeweilige Kunstwerk vom Publikum rezipiert wird. Freie Rede und Gegenrede modulieren die Wirkung von Kunst. Hinzu kommt noch etwas anderes: Die Abschaffung der Zensur hat nicht dazu geführt, dass sich eine große Zahl von Menschen zu offenen Hassreden gegen schwache Minderheiten berechtigt fühlt. Dasselbe gilt für die Nichtanwendung oder Abschaffung von Blasphemiegesetzen in liberalen Gesellschaften, die weder von den Gesetzgebern noch von der breiten Bevölkerung verstanden wird als eine Lizenz zur Verächtlichmachung und Verfolgung von
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