Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Andersgläubigen. Die weitere Liberalisierung der Redefreiheit, die vielleicht eines Tages auch die Leugnung des Holocaust straffrei macht, kann sehr wohl einhergehen mit einer wachsenden Sensibilität für die Verwundbarkeit von ethnischen und religiösen Minderheiten. Auch einige der öffentlichen Reaktionen im Zusammenhang des 2006 eskalierten Streits um die Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen in Dänemark sind ein Anzeichen dafür, dass der Unterschied zwischen rechtswidrigen und moralisch verwerflichen Äußerungen fest im öffentlichen Bewusstsein verankert ist (vgl. Klausen 2009). Das, was erlaubt ist, kann gleichwohl als illegitim verurteilt werden. In Großbritannien jedenfalls hat keine Zeitung jene Karikaturen abgedruckt. 41
Neben der durch freie Gegenrede bewirkten Stärkung des Achtungsanspruchs religiöser und ethnischer Minderheiten in einer rechtlich zunehmend libertären Gesellschaft fordert der multikulturelle Modus Vivendi eine weitere Konsequenz. Kant versteht unter Mitteilungsfreiheit eine Situation, in der dem Publikum die Möglichkeit genommen wird, sich der Behelligung durch provozierende oder kränkende Sprechhandlungen zu entziehen, so wie man sich bis vor einiger Zeit nicht gegen das Passivrauchen wehren konnte. Dies wird man heute differenzierter sehen müssen. Es ist eine Sache, die Publikation zum Beispiel von islamkritischen Äußerungen nicht verbieten zu wollen; eine andere Sache wäre es, dieselben Äußerungen zur besten Sendezeit landesweit auszustrahlen oder in die Curricula öffentlicher Schulen aufzunehmen. Wir betreten hier das weite Feld des Ratsamen, in dem es weniger auf situationsübergreifende (rechtliche oder moralische) Prinzipien ankommt als auf ein fallorientiertes Orientierungswissen.
Kapitel 4
Die Zukunft der »gemischten Multitude«
Schon im Buch Exodus ist beiläufig und wertungsfrei die Rede von der »gemischten Multitude«, die sich den Israeliten beim Auszug aus Ägypten anschließt (Ex. 12:38). 42 Im 20. Jahrhundert wird die gemischte Multitude immer wieder auch zum Gegenstand von düsteren Zukunftsphantasien. So schreibt Alfred Döblin in seinem 1924 erschienenen Roman Berge, Meere und Giganten :
»Die alten politischen Staaten bestanden noch dem Namen nach. Wie die Hautfarben, die Gesichter arabisch ägyptisch negerhaft sich veränderten, die Sprachen zu einem Kauderwelsch wurden, in dem sich nördliche und südliche Zonen berührten, so verloren die Staaten ihren alten strengen Charakter. Eine fast gleichförmige Menschenmasse bevölkerte das Gebiet von Christiana [gemeint ist Oslo] bis Madrid und Konstantinopel […]. Das angelsächsische Imperium war es, in dem sich die Ströme dunkler grauer schwarzer brauner weißer Menschen langsam mischten. Dann zermorschten die alten politischen Gewalten.« (Döblin 1980: 20)
In einer expressionistischen Sprache zeichnet der Schriftsteller das Bild einer Welt, die durch Globalisierung, Massenmigration, den Aufstieg einer »Kanak Sprak« (Zaimoglu 1995), den Kontrollverlust des Staates und die »angelsächsische« Hegemonie gekennzeichnet ist. Wenn man von der Wortwahl und dem apokalyptischen Unterton absieht, könnte Döblins Schilderung auch von manchen Autoren des Multikulturalismus stammen. Wie diese antizipiert Döblin eine Welt, die nicht mehr aus eingefriedeten Orten besteht, sondern aus Flüssen und Strömen.
Tatsächlich kann man sagen, dass es eine mobile und gemischte Multitude ist, die zunehmend das Bild großer Teile der Welt bestimmt. Internationale Organisationen haben ausgerechnet, dass in den Jahren zwischen 2008 und 2010 weltweit ungefähr 630 Millionen auf eine Gelegenheit warteten, in ein anderes Land auszuwandern. Das sind 14 Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung (Esipova et al. 2012). Die Vermischung als Folge von Mobilität bedeutet dabei nicht nur Homogenisierung, sondern auch Vervielfältigungvon Unterschieden. Das liegt nicht zuletzt am Phänomen der cultural retention , das heißt der Fähigkeit von Migranten und deren Nachkommen, ihre kulturellen Sitten und Gewohnheiten auch in fernen Aufnahmegesellschaften beizubehalten und zu akzentuieren. Das Konzept der »Ethnizität« wurde vor dem Hintergrund dieser Fähigkeit in den 1960er Jahren neu entdeckt und als Ausdruck des kulturellen Widerstands von marginalen Communities gegen die Politik oder die Erwartung der Assimilation, besonders in den Vereinigten Staaten, gedeutet (vgl. Conzen et al. 1992). Heute wird die Fähigkeit
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