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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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    Der Übergang von Kultur als Schranke zu Kultur als Ressource ist ein umfassendes Phänomen, das sich nicht nur im Multikulturalismus zeigt, sondern auch in der Krise der Modernisierungstheorie und der Erosion der Selbstgewissheit und des Überlegenheitsgefühls des Westens. Die historische Entwicklung scheint nichtlinear zu verlaufen, insofern einerseits die unbeabsichtigten und schwer kalkulierbaren Nebenwirkungen von Entscheidungen immer wichtiger werden, andererseits auch das vermeintlich Residuale und Gestrige eine neue Bedeutung gewinnen kann. So gibt es Hinweise, dass bestimmte kulturelle oder zivilisatorische Muster, die lange Zeit als Hindernisse der Entfaltung der Marktwirtschaft galten, heute als Ressourcen derselben funktionieren. Das gilt zum Beispiel für den von Weber missverstandenen »asiatischen« Handelsgeist, der gut zum Profil des gegenwärtigen globalen Kapitalismus passt (vgl. Heins 2010). Mit dem Multikulturalismus innerhalb von Staaten verhält es sich ähnlich. Vorbei ist die Zeit, da westliche Eliten von einem Sendungsbewusstsein erfüllt waren, das es ihnen erlaubte, die Assimilierung von Einwanderern und Minderheiten zu fordern und aktiv zu betreiben. In den fortgeschrittensten Gesellschaften interessiert man sich heute umgekehrt für das, was diese Gruppen umtreibt, und versucht, die Instititutionen darauf einzustellen. Die kanadische Formel »reasonable accommodation« illustriert gut die Umkehrung der Anpassungsrichtung. Multikulturelle Gesellschaften integrieren ihre Neuankömmlinge, indem sie über die Maßstäbe der Integration mit ihnen verhandeln und dadurch manchmal zu moralischen Innovationen anregen. Oder indem sie, wie die Bouchard-Taylor-Kommission vorgeschlagen hat, die meisten multikulturellen Konflikte, die im Alltag von Institutionen auftauchen, dem Konfliktlösungspotenzial dieses Alltags und nicht den Gerichten überlassen. Auch die Kritik an der französischen Politik des Verbots von islamischen Kopfbedeckungen und anderen »ostentativen Zeichen« ist eine Kritik an der Verkennung des nicht-linearen, produktiven Charakters von Kultur als Ressource. Die Bedeutung von Kopftüchern, Hijabs oder Niqabs wird von ihren Trägerinnen in einem Prozess der unendlichen Semiose dauernd neu erfunden. Was einmal ein Zeichen für Unterdrückung oder Gottesfürchtigkeit ist, verrät ein anderes Mal, in den Worten von Seren Basogül, »Mut und Standfestigkeit« (zit. nach Güvercin 2012: 73).
    In diesem Licht betrachtet verfehlt die Standardkritik am Multikulturalismus ihren Gegenstand. Der Multikulturalismus essentialisiert nicht kulturelle Ausdrucksformen, da seine Vertreter nicht behaupten, dass kulturelle Gruppen über einen inneren moralischen Kern verfügen, der offengelegt werden kann, so wie man den Kern einer Frucht herausschält. Taylors Authentizitätsideal geht umgekehrt gerade davon aus, dass sich das Auszudrückende im dialogischen Prozess des öffentlichen Ausdrucks auf unvorhersehbare Weise verändern kann. Für die Kritiker ist Kultur eine Schranke, etwas Träges und Hinderliches, während sie für die Multikulturalisten dynamisch, flüssig und produktiv ist, kurz: eine Ressource. Die Kritik unterstellt den Multikulturalisten ein pauschales Lob der kulturellen Differenz, während es eigentlich um etwas anderes geht: ein Lob der Differenzierung.
    Das wird noch deutlicher bei der genaueren Bestimmung jener Kulturelemente, die in den Genuss des symbolischen Ressourcenschutzes durch Multikulturalismus kommen sollen. Eine multikulturelle Fortentwicklung der liberalen Demokratie erkennt man nicht einfach daran, wie viel Eigensinnigkeiten Migranten und Minderheiten zugebilligt werden. Die zentrale Idee des Multikulturalismus ist es vielmehr, solche Eigenheiten von Gruppen zu schonen, die für das Leben der Angehörigen dieser Gruppen sinnstiftend sind. Eine Expertin in der Bouchard-Taylor-Kommission spricht von »meaning-giving beliefs and commitments« (Maclure 2011: 261). Damit sie als schützenswert anerkannt werden, müssen diese sinnstiftenden Glaubensinhalte und Bindungen weitere Minimalbedingungen erfüllen: Sie müssen im Einklang mit den Bürger- und Menschenrechten stehen, dürfen keine irreparablen Störungen in den Betriebsabläufen von Organisationen und Gemeinden verursachen, gegen professionelle Standards verstoßen oder ein Sicherheitsrisiko darstellen. Nach diesen Kriterien wird in den Vereinigten Staaten und Kanada verfahren, wo Bestrebungen, durch

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