Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
zur Bewahrung von kulturellem Eigensinn auch noch gezielt gefördert durch die symbolische und rechtliche Aufwertung der jeweils eigenen Diaspora durch Regierungen in den Quellregionen der Migration. Zusammen mit dem Welthandel, dem Internet und billiger werdenden Transportmöglichkeiten führt dies zu einer Streuung von kulturellen Eigensinnigkeiten, die nach und nach überall auftreten. Bürger aus unterschiedlichen Erdteilen können in den Ländern der jeweils anderen nicht nur die eigenen Landsleute treffen, sondern auch die eigenen Fernsehprogramme sehen, heimische Musik hören und Lebensmittel aus der Heimat einkaufen. Außerdem können sie all diese Güter auf Märkten anbieten. Daraus ist das entstanden, was man einen »Boutiquen-Multikulturalismus« (Fish 1997) genannt hat. Es wird immer leichter, kulturelle Versatzstücke aus aller Welt durch bewusste Wahlentscheidungen zu kombinieren und sich anzueignen.
Auf dieser Ebene entstehen noch keine politischen Probleme, das heißt solche, die das friedliche Zusammenleben innerhalb des Gemeinwesens betreffen. Diese werden erst vom eigentlichen, philosophisch begründeten Multikulturalismus behandelt, der sich auf Fragen konzentriert, die sich aus der Vermehrung von nichtwählbaren oder, genauer gesagt: nicht willkürlich wählbaren Bindungen und Eigenschaften ergeben. Damit meine ich Bindungen und Eigenschaften, die Personen und Gruppen nur unter Schmerzen abstreifen oder nur mit Mühe erwerben können, etwa durch Assimilation oder religiöse Konversion. Die Weltgesellschaft ist kein Raum von Containern (Staaten oder »Kulturkreisen«), sondern ein Raum von Flüssen. Diese Flüsse unterliegen Regeln. Rechtliche und andere Regeln legen fest, was Einzelnen und Gruppen an Lernbereitschaft und Verhaltensänderungen zugemutet werden darf. In dem Maße, wie diese Regeln auf schwer (ab-)wählbare Bindungen und Eigenschaften zugreifen, sind Konflikte vorprogrammiert. Nicht umsonst kreisen viele Debatten in der Geschichte des Multikulturalismus immer wieder um Fragen des Umgangs mit Religion,Sexualität und Ethnizität. Zum Schluss möchte ich einige dieser Fragen noch einmal zuspitzen und einen Ausblick geben.
Kultur als Schranke und Ressource
Der Multikulturalismus in Europa ist eine Reaktion auf wachsende ethnische und religiöse Vielfalt. Diese wachsende Vielfalt ist nicht nur, aber zu einem guten Teil auf die jahrzehntelange Masseneinwanderung zurückzuführen sowie auf die Fähigkeit und den Willen einiger Einwanderergruppen, ihre mitgebrachten Vorstellungen vom richtigen Leben teilweise oder vollständig beizubehalten. Diese Vorstellungen und ihre alltäglichen Ausdrucksformen werden zum Ziel von symbolischen Markierungspraktiken, die Zuwanderer anhand bestimmter Merkmale zu »Fremden« machen. Fremdheit ist demnach kein intrinsisches Merkmal von Gruppen, sondern entsteht erst vor dem Hintergrund einer jeweils besonderen Mehrheitskultur. Nur in einer christlichen Gesellschaft erscheinen Juden als verdächtige Ungläubige, nur in einer radikal säkularisierten Gesellschaft können tiefgläubige Muslime Angst machen, nur in einer weißen Gesellschaft, die Hautfarben überhaupt Bedeutung beimisst, können phänotypisch anders Aussehende als minderwertig repräsentiert werden, und nur in einer sesshaften Eigentümergesellschaft sind »Zigeuner« schwer integrierbar.
Der Multikulturalismus ist die große historische Alternative zu den gescheiterten und moralisch diskreditierten Alternativen der Assimilation und Segregation, deren Vertreter in der mitgebrachten Kultur von Einwanderern oder indigenen Minderheiten nur eine Schranke gegen die Ausbreitung von Modernität, Recht und Freiheit sehen konnten. Multikulturalisten plädieren umgekehrt dafür, die Eigenschaften, Fähigkeiten und Bindungen jener Gruppen auch als Ressourcen zu betrachten, die nicht durch Privatisierung zum Aussterben verurteilt werden dürfen. Dieses Plädoyer ist zugleich eines für das Coming-out aller Gruppen und Individuen. Was dabei zum Vorschein kommen soll, ist das ganze Spektrum an Orientierungen, Deutungen und partikularen Bindungen, die in der Gesellschaft existieren. Sowohl Taylor als auch Kymlicka lassen sich von der Vorstellung leiten, dass Sonnenlicht das beste Desinfektionsmittel ist. Erst der freie Selbstausdruck und die Sichtbarkeit der kulturellen Besonderheiten von Einzelnen und Gruppen macheneine Verständigung über die Grundlagen der Solidarität in der Gesellschaft möglich.
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