Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
Vom Netzwerk:
allgemeine Gesetze zum Beispiel rituelle Beschneidungen von Jungen oder bestimmte Kleidungsstile zu verbieten, nicht nur chancenlos sind, sondern im Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit stehen. Am anderen Ende des Spektrums liegen Praktiken wie die immer wieder gern zitierte Klitorisbeschneidung oder die bei einigen Hindus vorgenommene Abtreibung weiblicher Föten – Praktiken, die nirgendwo in der westlichen Welt als schützenswert gelten. Andere reale Streitfälle aus der jüngeren Vergangenheit sind ebenfalls eindeutig: Muslimische Busfahrer in England dürfen nicht blinde Fahrgäste, die auf einen Blindenhund angewiesen sind, abweisen, nur weil Hunde im Islam als »unrein« gelten; muslimische Medizinstudenten dürfen sich nicht unter Verweis auf ihre Religion weigern, bestimmte Kurse zu belegen, die mit Geschlechtskrankheiten oder Alkoholmissbrauch zu tun haben usw. (vgl.McGoldrick 2013: 62f.). Muslimische Einwanderinnen dürfen bei ihrer offiziellen Einbürgerungszeremonie auch in Kanada nicht im Niqab, einem blickdichten Gesichtsschleier, erscheinen (man möchte gerne sehen, wer da einen Eid leistet). Keine Chance auf Verwirklichung hat auch der Gedanke der generellen »Einführung der Scharia«, wie Leggewie (2011b: 8) richtig bemerkt. Elemente einer Scharia light können sich allerdings sehr wohl etablieren. So hat sich in Großbritannien, angeregt von den Thesen Ayelet Shachars, eine lebhafte Diskussion entwickelt um den Status und die Möglichkeiten von privaten sharia councils , die seit dem Arbitration Act von 1996 legal im Land operieren (vgl. Griffith-Jones 2013; Zucca 2012: Kap. 6).
Juden, Muslime, Homosexuelle
    Anders als in Nordamerika wird auf dem europäischen Kontinent zumeist so verfahren, dass kulturell-religiöse Minderheiten ausgehend von unterstellten Mehrheitsnormen identifiziert werden, zu denen sich diese Minderheiten immer nur im Modus der Abweichung verhalten können. Genauer müsste man sagen, dass Minderheiten in diesem Prozess überhaupt erst öffentlichkeitswirksam konstruiert werden. In einem nicht nur quantitativen, sondern symbolischen Sinne sind Minderheiten das Resultat von Minorisierung. Darunter verstehe ich eine soziale und politische Platzanweisung, die darauf zielt, bestimmten Gruppen aufgrund ihrer numerischen Schwäche und vorgestellten Andersartigkeit eine untergeordnete, nur geduldete Position im gesellschaftlichen Raum zuzuschreiben und ihnen echte Teilhabe an der Gesellschaft zu verweigern. Minorisierung ist ein Instrument zur Konsolidierung von Mehrheitstyranneien. Das Paradox besteht darin, dass Gruppen, die bedroht sind, als Quelle von Bedrohung imaginiert werden. Ohnmächtige werden als übermächtig repräsentiert. Als Mitglied einer Minderheit bezeichnet zu werden, impliziert oft, suspekt zu sein, nicht ganz der Norm zu entsprechen und besondere Aufmerksamkeit anzuziehen. Die Einzelnen fühlen sich unter diesen Umständen nicht mehr als fraglos ebenbürtige Mitglieder des großen Kollektivs der Nation, sondern sehen sich auf den ewigen Status einer schwächeren Untergruppe dieses Kollektivs zurückgeworfen.
    In diesem Buch habe ich vor allem europäische Juden und Muslime als exemplarische symbolische Minderheiten genannt. Diese Beispiele sind nicht willkürlich gewählt, obwohl es selbstverständlich zahllose andere Gruppengibt, die früher oder heute diskriminiert wurden oder werden. Zumindest in Europa sind es allerdings vor allem Juden und Muslime, die aus angebbaren Gründen immer wieder zum Ziel von Minorisierungsstrategien gemacht worden sind. Am Anfang steht die Tatsache, dass Europa historisch zwar die eigenen innerchristlichen Religionskriege überwinden konnte, dem Gedanken eines echten »religiösen Pluralismus« jedoch fremd gegenüberstand (Zucca 2012: Kap. 1). Insbesondere Juden wurden bestenfalls »toleriert«. Wir haben es hier mit einer Konstanten der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter zu tun. Das Bild sowohl der Juden wie der Muslime ist tief ins europäische Gedächtnis eingeschrieben. Beide Gruppen sind im Laufe der Geschichte europäischer Selbstfindungsprozesse immer wieder als nicht dazugehörig definiert worden.
    So hat der amerikanische Religionswissenschaftler Gil Anidjar gezeigt, wie das mittelalterliche Christentum zwischen den Zeilen der biblischen Gebote »Liebe deinen Nachbarn wie dich selbst« und »Liebe deine Feinde « die Botschaft herauslas, die Nachbarn als Feinde zu klassifizieren und auf die Juden in der

Weitere Kostenlose Bücher