Der Skandal (German Edition)
fieses Grinsen im Verhörraum, seine Drohung, dass er eine große Familie hat. Damit meinte er die Drogendealer, und nicht nur die rund um die Locust Street. Für die zählt ein Leben nicht viel, es geht immer nur um Respekt und Ehre. Sie will es nicht wahrhaben, aber ihre Mutter hatte recht. »Nicht Tim – ich sollte ermordet werden. Ich muss zu ihm.«
»Du meinst, zu Travis Raymond?« Aaron runzelt die Stirn. »Du meinst, er hat sich an dir gerächt, indem er jemanden geschickt hat, der deinen Bruder …«
»Nein. Nicht meinen Bruder – sie wollten mich .«
»Aber die hätten doch genau abgecheckt, wann du zu Hause bist, oder die hätten dich auf dem Heimweg erwischt, wieso sollten sie aus Versehen deinen Bruder töten?«
»Sie waren sicher, dass ich zu Hause bin.«
»Okay, es wurde nichts gestohlen«, räumt Aaron ein, »aber wie kannst du so sicher sein, dass nicht doch dein Bruder gemeint war?«
Ein Teil von ihr will aufstehen, sofort ins Gefängnis fahren, das fette Schwein aus der Zelle holen und richtig fertigmachen, bis er sein Scheißmaul aufmacht und alles zugibt. Aber der andere Teil will nicht weg, nicht solange Jay in Lebensgefahr schwebt.
»Travis Raymond wird mindestens fünfzehn Jahre im Bau sitzen, das weiß er. Und es wird ihm dort verdammt dreckig gehen. Und deshalb hat er es getan«, sagt sie.
»Chris, ich weiß nicht, ob du dich da nicht in etwas verrennst.«
»Aaron! Glaub mir ein Mal! «
Sie ist aufgesprungen und geht auf und ab. »Du hast selbst gesehen, was er mit Charlene gemacht hat! Er ist zu so was fähig! Er hat jemanden beauftragt!« Sie bleibt vor ihm stehen. »Es war Travis Raymond!«
»Chris, wir dürfen jetzt nicht den Fehler machen und uns auf eine Spur festlegen! Du hast jetzt Schuldgefühle, weil …«
»Hör auf, mich zu analysieren!«, fährt sie ihn an. »Ich muss zu ihm ins Gefängnis, okay?«
Er klappt seinen Notizblock zu und steht auf. »Okay … aber lass mich gehen. Du wirst hier gebraucht.«
Obwohl sie ihm nicht so viel zutraut – er ist vier Jahre jünger und –, erst vor einem Jahr zur Homicide Squad gekommen, sagt sie Ja. Sie muss bei Jay bleiben, auf ihn aufpassen, mit ihm um sein Leben kämpfen.
»Wir kriegen das Arschloch«, versichert er ihr. Es klingt ungewohnt hart aus seinem Mund, der so sanft lächeln kann.
Sie ist wieder allein und starrt durch die Scheibe auf Jay. »Bitte«, murmelt sie, »bleib bei mir.«
Du schaffst es, flüstert sie still, du schaffst es.
2
Sie haben sie zu ihm gelassen, und sie hat den Rest der Nacht über an seinem Bett gesessen, hat seinen Atemzügen gelauscht und ist bei jeder Unregelmäßigkeit aufgeschreckt. Immer wieder ist sie aufgestanden und hat nachgesehen, ob der Wachmann auf seinem Posten vor der Tür ist. Er war immer da, bis auf einmal, da kam er wirklich gerade von der Toilette.
Es geht schon gegen Morgen, als ihre Eltern zurückkommen. Sie waren nur kurz zu Hause, jetzt sitzen sie schweigend im Gang.
Irgendwann bittet Christina dann doch ihre Mutter, bei Jay zu bleiben, und lässt sich von ihrem Vater zum Präsidium fahren, wo immer noch ihr Wagen steht. Nein, in ihre Wohnung kann sie nicht.
Jetzt sitzt sie völlig übermüdet in Mullers Büro. Viel fehlt nicht, und sie verliert die Kontrolle über sich. Bisher ist sie davon ausgegangen, hat es als selbstverständlich vorausgesetzt, dass Muller sie mit in die Ermittlungen einbezieht. Alle achtundzwanzig Detectives der Homicide Squad sind mit laufenden Fällen beschäftigt. Warum sollte sie, Christina, ausgeschlossen werden? Sie bearbeitet ihren Fall ja nicht allein.
Nicht nur, weil Muller auch einen Sohn hat und nachfühlen kann, wie Christina sich fühlt, sollte sie, Christina, dabei sein. Sondern auch, weil sie, Christina, die Beste ist.
Aber Muller sitzt da an ihrem Schreibtisch, als hätte sie alle Entscheidungen längst getroffen.
Mit dem wie maßgeschneidert aussehenden Kostüm, der perfekten Kurzhaarfrisur, dem dezenten Make-up, der Art, wie sie den teuren Kugelschreiber hält und keine Regung erkennen lässt, demonstriert sie unerschütterliche Selbstsicherheit. Christina weiß, es hätte keinen Zweck, sie um irgendetwas zu bitten. Muller folgt einfach ihren Prinzipien – ohne Ausnahme.
Christina könnte aufspringen und Muller am Kragen ihrer verdammten blütenweißen Bluse packen, damit sie endlich begreift , worum es in Wirklichkeit geht! Aber sie bleibt reglos sitzen und wartet.
Muller faltet die schlanken Hände mit dem
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