Der Skandal (German Edition)
dem Bösen. Sie konnte Charlene nicht retten und auch all die anderen Menschen und Kinder nicht.
»Mrs. Andersson«, sie hört eine besänftigende Stimme und spürt eine Hand auf ihrer Schulter, »es wird schon wieder.«
Die dunkelhäutige Krankenschwester sieht ihr tröstend in die Augen.
Woher wissen Sie das?, will Christina fragen, aber sie weiß, dass die Schwester ihr darauf keine Antwort geben kann.
»Setzen Sie sich. Ich hole Ihnen eine Decke.«
»Er ist doch erst sieben«, hört sie sich sagen.
Die Krankenschwester blickt durch die Scheibe. »Er ist ein großer Junge.«
»Er ist ein Sportler«, sagt Christina. Sie erinnert sich an die Wochenenden, an denen sie Jay zu seinen Basketball-Spielen gefahren hat. »Seine Schule hat die Meisterschaften gewonnen. Nächstes Jahr will er mit Tennis anfangen …« Sie bricht ab.
»Soll ich Ihre Eltern holen?«, fragt die Schwester mitfühlend.
»Nein, noch nicht.«
»Ich komme gleich wieder mit der Decke.«
Christina starrt wieder durch die Scheibe. Sie macht sich Vorwürfe. Warum hat sie unbedingt in die Bar gehen müssen? Sie hätte doch mit ihrem Bruder und Jay feiern können. Sie hätten zusammen eine lustige DVD angesehen und Pizza gegessen … Wenn sie zu Hause gewesen wäre, wäre das alles nicht passiert.
»Muller ist benachrichtigt.«
Christina schrickt hoch. Das ist Aarons Stimme. Sie dreht sich um und sieht ihn kommen, zwei Becher in der Hand. Sie zieht die blaue Fleecedecke noch enger um die Schultern. Sie friert.
»Sie setzen alle Hebel in Bewegung …« Seine rotbraunen Haare sind feucht vom Schnee. Er hält ihr einen der beiden Becher hin. »Kaffee mit viel Zucker.«
Sie ist ihm dankbar, dass er jetzt da ist. Sonst würde sie durchdrehen. Aaron setzt sich neben sie, pustet in den Kaffee und wärmt seine Hände am Becher. Dass seine Augen so grün sind, ist ihr noch nie aufgefallen. So nah waren seine Augen auch noch nie.
Schließlich fragt er: »Wie geht es ihm?«
»Lungensteckschuss. Sie wissen noch nicht, ob er durchkommt.«
Er nickt nur.
Sie ist froh, dass er nicht irgendetwas Tröstendes sagt, an das er vielleicht sowieso nicht glaubt. Der Kaffee ist tatsächlich sehr heiß.
»Okay«, sagt sie und stellt den Becher neben sich auf den Boden, »was habt ihr rausgefunden?«
Der Täter hat das Fenster hinten im Flur eingeworfen. Der Stein und die Fußabdrücke im Garten sind sichergestellt. Leider ist schon wieder Schnee gefallen.
Ihr Bruder ist aus nächster Nähe erschossen worden, beide Schüsse waren tödlich. Die ballistische Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen. Der Täter muss gestört worden sein, sonst hätte er Jay nicht entkommen lassen …
Ihr Blick gleitet zur Scheibe, hinter der Jay liegt. »Er hat einen Zeugen zurückgelassen«, sagt sie. »Ich will sofort eine Bewachung, Aaron. Rund um die Uhr.«
Aaron nimmt sein Handy.
Während er telefoniert, starrt sie auf die Tür zu Jays Zimmer. Man muss sie nur öffnen, ins Zimmer hineingehen und die Maschinen abstellen, den Stecker herausziehen. Sie will nicht daran denken, wie leicht es ist, dieses Leben zu beenden.
Aaron steht auf, geht ein Stück den Flur hinunter. Schon nach wenigen Augenblicken kommt er zurück. »Sie schicken gleich einen.«
» Einen? Was, wenn er mal aufs Klo muss? Wenn er kurz einnickt? Aaron, du weißt doch, wie oft so was schiefgeht!« Sie hat ihre Stimme nicht mehr unter Kontrolle.
»Okay, beruhige dich, dann fordern wir einen Zweiten an, ist kein Problem.«
Aber diesmal bekommt er nicht, was er will. Das kann sie ihm schon von den Augen ablesen, während er nickt und immer wieder leise Verstehe ins Telefon sagt.
»Muller sagt, sie hat nicht genug Leute.«
»Wir haben nie genug Leute.«
Wie sollte es auch anders sein in einer Stadt, in der jeden dritten Tag ein Mord geschieht, das weiß sie. Aber das hier ist doch etwas anderes! Es geht jetzt um sie! Und um Jay!
Eine Krankenschwester schiebt einen Verbandswagen vorbei und grüßt flüchtig.
Aaron stellt seinen Becher weg und sieht zu ihr herüber. »Erzähl mir was über deinen Bruder. War er jünger oder älter als du?«
Wieder sieht sie Tims Körper vor sich, in der Blutlache auf ihrem Teppich. Die Einladung zu seinem letzten Geburtstag im November hatte sie absagen müssen. Sie hatten gerade vier Mordfälle – inklusive den Fall Charlene Brickerton – auf dem Tisch.
»Er war neununddreißig.«
Aaron trinkt einen Schluck Kaffee. »Habt ihr oft Kontakt gehabt?«
»Er war
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